Sachchinandanda Vatsyayan (Aineya)

Tanz auf dem Seil

Gedichte

Eine Auswahl anlässlich seines 100. Geburtstags

 

Aus dem Hindi übersetzt von Lothar Lutze

Ajneya in Deutschland

 

Von Lothar Lutze

 

Das Baumhaus

 

Kurz vor seinem Tod

legte er

in seinem Garten

ein Baumhaus an.

 

Es war wie fast alles bei ihm

sorgsam geplant.

Der Nimbaum sperrte sich nicht

und nahm ihn bereitwillig auf.

Selbst die Vögel gaben klein bei.

Nachbarskinder ergriffen

spielend

Besitz davon.

 

Darüber wurde der Bauherr

selbst zum Kind.

 

Zu Ernsterem

blieb keine Zeit. 

2011, 132 Seiten, 12,80 Euro, ISBN 978-3-937603-50-6


Das Baumhaus, von dem hier die Rede ist, sollte am Abend des 4. April 1987 eingeweiht werden. Ein paar Literatenfreunde waren geladen, darin aus eigenen Werken zu lesen. Es kam nicht dazu: der Gastgeber, Ajneya, starb am Morgen desselben Tages, knapp einen Monat nach seinem 76. Geburtstag. Mit einem Mal war man sich einig: die Hindiliteratur, die indische Literatur überhaupt, ja Indien sind ohne ihn ärmer geworden. „Ein paar Tage vor seinem Tod", berichtet Ashok Vajpeyi, der Begründer des Kulturzentrums Bharat Bhavan in Bhopal, „war er zum Kavibharati-Lyrikertreffen in den Bharat Bhavan gekommen. Seine bloße Anwesenheit bewirkte, daß er im Kreise der etwa fünfzig Lyriker verschiedener Sprachen Indiens als kavikulguru (eine Art Oberpriester der Dichtergemeinde also) anerkannt wurde."

 

Sein Leben, reich an Widersprüchen, spiegelt die indische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts wider. Sachchidananda Hirananda Vatsyayan verdankt seinen sanskritischen nom de plume, Ajneya (sprich: Agyé, „der Unkennbare"), seinem Kollegen Jainendra Kumar: dahinter verbirgt sich die Anonymität, unter der dieser Geschriebenes aus dem Gefängnis schmuggelte, in dem der junge Vatsyayan als Terrorist gegen die britische Kolonialmacht einsaß. Dem widersprach offenbar nicht, dass der Rebell im Zweiten Weltkrieg an der Birmafront auf Seiten der Briten kämpfte, und zwar als captain der königlichen Armee, wie er nicht ohne Stolz betonte. Gleichwohl, am Ende entsteht das Porträt einer faszinierenden Persönlichkeit, die ihre Wege mit sanfter Entschlossenheit und mit Autorität gegangen ist – und letztlich auf dem Weg zu sich selbst war.

 

Auch seine europäischen Freunde sind ohne ihn ärmer geworden. Ajneyas Beziehungen zu Europa waren intensiv und vielfältig. Am Entstehen eines zeitgenössischen indischen Europabildes hat er als Künstler, als kritischer Denker und nicht zuletzt als pravasi, als passionierter Reisender, mitgewirkt – als einer, der immer in Bewegung, ständig unterwegs ist. UNTERWEGS ZUM FLUSS ist der Titel seiner 1986 im Freiburger Mersch-Verlag erschienenen deutschsprachigen Werkauswahl.

 

Ajneyas Reisen führten ihn in alle Kontinente, mit wachsender Regelmäßigkeit aber nach Europa, genauer: nach Deutschland; und hier in Deutschland wurden Heidelberg und dessen nähere Umgebung mehr und mehr zu seiner Bleibe, seinem thaur-thikana. Es war 1970 in Heidelberg, als er in seiner Vorlesung über die Rolle des Schriftstellers in der zeitgenössischen indischen Gesellschaft die Tätigkeit des Schriftstellers als einen Tanz auf dem Seil beschrieb:

 

„I see him as a tight-rope walker, a tight-rope walker who furthermore is responsible for seeing that the rope remains taut. He is not only riding the rope, he is also the man who is stretching it tight all the time. He is also concerned not only with keeping the rope taut but ensuring that the rope is there, and with demonstrating that it can be done. It is, if you like, an act of faith ..."

 

1976, wieder in Heidelberg, kulminiert seine Beschäftigung mit diesem Bild in dem Gedicht, dem Titelgedicht dieses Bandes. Der Übersetzer lernte es vor der Fahrt nach Zürich kennen, wo es zum ersten Mal vom Dichter öffentlich vorgetragen wurde.

 

In SHASHVATI, dem dritten Band seiner „innere Vorgänge"‚ genannten Betrachtungen (1979, S. 60), befindet sich ein Hindi- Limerick, in dem der Dichter seinen Übersetzer etwa so porträtiert:

 

in der Stadt wird er fast zum Aggressor

doch die Waldluft, sie macht

daß er gleichsam erwacht

darauf geht’s Übersetzen gleich besser

 

Dieses Bild weckt glückliche Erinnerungen an Wanderungen unter den Bäumen des Odenwalds, an plötzlichen Regen und wärmenden Sonnenschein, an den letzten Schnee des weichenden Winters und das erste Grün des jungen Frühlings; Erinnerungen an die erste Hälfte des Jahres 1976, als der Dichter Gastprofessor am Südasien- Institut war und, wie sich ohne Übertreibung sagen läßt, Hindiliteratur sich zu einem wesentlichen Teil in Deutschland ereignete. Was wesentlich an diesem Aufenthalt war, war die Unmittelbarkeit, in der zwei Kulturkreise – der indische und der kontinentaleuropäische – in der Person des Dichters einander

gegenübertraten, miteinander verschmolzen. Der Einfluß deutschsprachiger Literaturen auf das Werk indischer Literaten war verhältnismäßig gering und meist indirekt, d. h. auf englische Übersetzungen angewiesen. Ajneyas Heidelberg-Aufenthalt, auf den er sich in Indien durch das Studium der deutschen Sprache vorbereitet hatte, hat da ein Zeichen gesetzt. Wer wäre berufener, das persönliche Risiko auf sich zu nehmen, das mit der totalen Exposition an eine fremde Kultur verbunden ist, als Ajneya: gehört doch solche Exposition geradezu zum Lebensstil des pravasi.

 

Auf den Odenwald-Wanderungen war auch Zeit für Reimspielereien und -wettbewerbe (meist ging es darum, „schwierige‚ Reime zu finden). In einem anderen Hindi-Limerick, von dem Treiben auf deutschen Autobahnen beeindruckt, benutzt der Dichter die Reimwörter Frau – Stau – Heidelberger Rundschau:

 

Das Auto wurde langsam, da sagte die Frau: 

„Da haben wir wieder den freitäglichen Stau. 

Sitz fest den ganzen Tag

Und jammre und wegklag

Und lies in deiner Heidelberger Rundschau."

SHASHVATI, S. 56

 

Nach einem Besuch des Faust-Puppenspiels war es der Name der Teufelspuppe Vitzliputzli, der zum Reimen lockte:

 

Vitzliputzli die Puppe ist putzig

wenn sie trippelt und lispelt: „Wie schmutzig!"

Mit ihrem Gepiepse

Ist ganz allerliebst se –

doch am Faden hängt sie: das macht stutzig.

SHASHVATI, S. 51

 

Im Odenwald begegnete der Dichter auch Spuren mittelalterlicher deutscher Dichtung: da war eine der Quellen, an denen Hagen Siegfried den Todesstoß versetzt haben soll; auf dem Fußweg zum Main lag Neidhart’s Reuenthal, und da wartete, fernab vom Tourismus, die Burg Wildenberg, von der es heißt, daß sie eine zeitlang Wolfram von Eschenbach beherbergte. Als Krönung wurde dem prominenten Gast in der Universitätsbibliothek das Original der Manesse-Handschrift gezeigt.

 

Ganz im Gegensatz zu dieser Idylle, blieb Berlin, das er zum ersten Mal Mitte der fünfziger Jahre besucht hatte, eines seiner Lieblingsziele.

„Was ich aber sah‚, hatte er damals beim Anblick der Berliner Gedächtniskirche in seinem Reisetagebuch notiert (EK BUND SAHSA UCHHLI, 1960, S. 286-311), „war dies: diese zerstörte Kirche war gleichsam das Antlitz des gegenwärtigen Europas – schön, zerbrochen, im Konflikt zwischen Leben und Vernichtung hin- und hergerissen und darum ganz nach innen gewandt ... Und auch dies empfand ich: so wie Berlin Europas Konfliktzentrum war und ist, so ist auch Europas wahres Gesicht im Grunde das Gesicht Berlins". Ajneya erkannte in dieser Stadt die offene Wunde der deutschen und europäischen Nachkriegsgeschichte – und darum liebte er Berlin.

 

1976, als Gastprofessor in Heidelberg, hat er dann mehrfach Gelegenheit, seine Bekanntschaft mit Berlin zu erneuern. Einmal lädt ihn Ingeborg Drewitz zu einer Lesung ins Künstlerhaus Bethanien. Er muß feststellen, daß die Teilung der Stadt inzwischen auf eine spezifisch deutsche Art perfektioniert ist. Bei einem Besuch im April 1976 entsteht am Kontrollpunkt Bahnhof Friedrichstaße das folgende Grenzgedicht:

 

Gesichter sind da,

maschinenglatte.

Aufpoliert glänzen sie

redend verraten sie nicht.

 

Doch die Hände

sind immer noch Urwald:

ihre Gelenke –

auch lautlos bringen

sie Wahrheit ans Licht.

 

Manchmal nur – überaus selten! – 

Tränen:

sie blieben übrig.

Manchmal hört man sie singen.

 

Seine literarische Spurensuche in Berlin führt ihn nach Steglitz, genauer: zu dem Haus Grunewaldstraße 13, in dem Franz Kafka von November 1923 bis Januar 1924 wohnte. Bei einem späteren Berlinbesuch möchte er dieses Haus wiedersehen und wird, als der amtliche Begleiter sich als unkundig erweist (so berichtet er danach den Freunden), aus dem Geführten zum Führer.

 

Auf das Grab Gottfried Benns im Dahlemer Waldfriedhof legt er Blumen und läßt sich dabei fotografieren. Er übersetzt Benn- Gedichte ins Hindi, darunter das bekannte „Wer allein ist, ist auch im Geheimnis, / immer steht er in der Bilder Flut ..." Mit diesen Zeilen setzt er sich in SHASHVATI (S. 59) auseinander: „– aber das Geheimnis ist nicht die Flut von Bildern, die vor dem Schöpfer aufsteigt: jene Bilder gehören schließlich allen. Das Geheimnis ist vielmehr die Ordnung, in der sie der Schöpfer laufend bringt, ist der Intellekt, der ihm diese Ordnung vermittelt und sie ihm ohne großes Nachdenken, in einem selbstverständlichen, kulturbedingten Prozeß vermittelt. Und dies und kein anderes Geheimnis ist das Geheimnis des Alleinseins – man empfängt es in Einsamkeit, es macht einsam ..."

 

Die Art, auf die hier der indische Dichter mit dem deutschen in eine kollegiale Zwiesprache eintritt, ist bezeichnend für Ajneyas Umgang mit der deutschen Literatur, mit fremder Literatur überhaupt. Gedanken und Motive des fremden Originals werden weitergedacht, umgewandelt. Immer aber bleibt dieses Verfahren schöpferisch – und gleicht damit dem Umgang des indischen klassischen Musikers mit einem raga, einer Grund- und Ausgangstonfolge.

 

So entsteht, als spezifisch indische Form der Kunstübung, eine Reihe von Variationen zu deutschen Themen. Matthias Claudius‘ „Ach, es ist so dunkel in des Todes Kammer"‚ verwandelt sich in ein Hindigedicht mit dem scheinbar doppeldeutigen sanskritischen Wort kal (Zeit/Tod). An Kleists Grab am Kleinen Wannsee liest er „Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein!" und meditiert:

 

Es gibt eine Art zu leben

eine zu sterben

und eine

diese beiden Ufer hinter sich zu lassen.

 

Das Problem liegt dazwischen ...

 

Auch Tübingen gehörte zu seinen Zielen. Im Mai 1976 besucht er dort den Hölderlinturm. Daraus entsteht, über die Kontinente und Jahrhunderte hinweg, ein poetisches Zwiegespräch zwischen den beiden Dichtern:

 

Hölderlin:

 

Mit gelben Birnen hänget

Und voll mit wilden Rosen

Das Land in den See,

Ihr holden Schwäne,

Und trunken von Küssen

Tunkt ihr das Haupt

Ins heilignüchterne Wasser.

 

Weh mir, wo nehm ich, wenn

Es Winter ist, die Blumen, und wo

Den Sonnenschein,

Und Schatten der Erde?

Die Mauern stehn

Sprachlos und kalt, im Winde

Klirren die Fahnen.

 

Ajneya:

 

Das vom Blütenzweigfächer gestreifte

unsichtbar fließende dunkelnde

heilige Wasser des Flusses

wirbeln wieder auf

die lärmenden Wasserspiele einer neuen Jugend.

 

Irgendein anderes Ufer

werden erhellen

die vergessenen holden Schwäne.

 

Reifen werden die Pflaumen, blühen werden die Sonnenblumen

doch das alles woanders, Dichter!

Hier, auf diesem aufgestörten Rummelplatz

was wirst du hier jetzt hören? Klirrende Wetterfahnen

oder das Schweigen der Zeit, das selbst sich zum Tönen bringt?


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