Aus dem Hindi von Lothar Lutze
Vishnu Khares Gedichte behandeln das Leben der nordindischen unteren Mittelklasse aus der Sicht und in der Sprache ihrer Angehörigen. Diese werden so zum Gegenstand seiner gekonnt schmucklosen, prosaischen Poesie – und erkennen sich wieder darin. Es geht um die kleinen Leute, die unscheinbaren, unauffällig-allgegenwärtigen, oft notdürftig urbanisierten, unserem Bedürfnis nach Exotik nicht genügenden:
Dieser Dichter gibt ihnen eine Stimme.
Ein Anwalt für die Erfolglosen
und Gestrandeten
Nachruf auf den Hindi-Dichter Vishnu Khare
Christian Weiß
Es muss im Frühjahr 2007 gewesen sein, in Schönau bei Heidelberg. Dort gibt es das Hotel „Pfälzer Hof“, das regelmäßig kulturelle Veranstaltungen durchführt. An diesem Abend war der indische Dichter Vishnu Khare (geboren am 9.2.1940, gestorben am 19.9.2018) zu Gast, zusammen mit seinem deutschen Übersetzer Lothar Lutze (1927-2015). Vishnu Khare las einige seiner Gedichte in seiner Muttersprache Hindi, Lothar Lutze rezitierte die Übersetzungen.
Es wird gesagt, dass Gedichte schwer zu übersetzen sind, und das ist sicherlich richtig. Aber es kommt auch vor, dass ein genialer Dichter einen genialen Übersetzer findet und dass aus der Zusammenarbeit der beiden kongeniale Übersetzungen entstehen. Ich denke, dass dies bei Vishnu Khare und Lothar Lutze der Fall war und dass dies an diesem Frühlingsabend im Odenwald-Städtchen Schönau spürbar wurde.
2006, 92 Seiten, 10,80 Euro, ISBN 978-3-937603-08-7
Viele von Vishnu Khares Gedichten handeln von Menschen aus der unteren Mittelschicht, von Menschen also, die kaum genug zum Leben haben. Man trifft sie etwa in einem Dhābā, einem einfachen Esslokal in Städten oder am Rand von Landstraßen. Kunden, die später kommen, sind in der Regel solche, die seit längerem auf Pump essen.
DIE SPÄTER KOMMEN
Die später ins kommen
Steigen die Treppe hinauf mit gesenktem Kopf
Im trägen feierabendlichen Rhythmus der Hand
Des Geschirrputzers der in der Ecke beim Abfluß
Mit Asche Blechteller und -schalen poliert
Sie setzen sich hin ohne Umstand und ohne das übliche ‚Ah’
Nachts um halb elf Uhr fahren
Keine Autos mehr und die vier Köche rekeln sich
Draußen auf Pritschen und kratzen sich an allen möglichen Gliedern
Oder holen die hinter die Ohren geklemmten Bīdīs
Oder die unter Kissen versteckten bebilderten Bücher hervor
Die später ins Dhābā Gekommenen Warten auf Stühlen an Tischen
Die noch stehengeblieben sind
Bis irgendein Kellner murrend sich aufrafft
Und ihnen die schon vor zwei Stunden
Angerichteten Teller umständlich vorsetzt
Blicken sie auf so sehen sie weder
Den Kellner an noch in den Teller
Nur ihre gierigen Finger zerrn einen Fetzen vom Brot
Und führen den fertigen Bissen zum Mund
Nicht zum ersten Mal haben sie Streichhölzer aus den Kartoffeln
Und vom Tellerrand etwas entfernt das wie vertrocknete Linsen aussah
Haben gesehn wie der Geschirrputzer in seiner Ecke sich hinhockt um Wasser zu lassen
Und wie der oberste Koch den neuen Nepālījungen sich auf den Schoß nimmt
Und versucht mit ihm anzubändeln
Aber alle wissen daß diese Leute die später ins Dhābā kommen den Mund halten
Diese Leute die später ins Dhābā kommen kennen einander auch ohne sich bekannt gemacht zu haben
Deshalb nehmen ihr Mahl sie in schweigender Übereinkunft ein
Auch wenn aus Versehn ihre Blicke sich treffen blitzt kein Erkennen auf
Noch regen sich Hand oder Kopf zum Gruß
Wenn sie nach dem Essen zum Wasserhahn gehen reden sie nicht
Übers heutige Essen die Welt das Glück die Familie daheim usw.
Wie die die pünktlich kommen im Stehen es tun
Zwischen Spülen und Spucken und Rülpsen
Wer diese Leute sind ist schwierig zu sagen
Mag sein daß wenigstens der Chef eine dunkle Ahnung hat
Doch eins steht für ihn fest: wenn er
Den Monat hindurch zu den Essenszeiten sitzenbleiben muß bis das Dhābā schließt
Dann ihretwegen die im Gehen ihn anreden mit gedämpfter respektvoller Stimme
Er aber fertigt sie ab mit einem Überdruß der bis in die Praxis
Von Doktor Fakīrchand gegenüber zu hören ist
Wenn diese Leute die später ins Dhābā kommen
Herabsteigen ziehn sie den Kopf ein
Dabei sind über ihnen ein paar Zoll Spielraum
Auch wenn es kalt ist haben sie auf der Oberlippe
Einen dünnen Strich Schweiß
Und auch wenn unten die Straße menschenleer ist
Schauen sie sich nicht um denn sie wissen
Daß der an der Treppe sitzende Betelverkäufer
Wissenden Blicks sie anstarren wird
Und daß die dösenden Hunde wenn sie sie wittern
Aufwachen und nicht aufhören werden zu bellen.
In diesem Gedicht merkt man, dass Vishnu Khare seine Umwelt sehr genau wahrnahm. Ihn interessierten vor allem die die Erfolglosen, die Loser, Gestrandeten. Nicht von „Shining India“ ist die Rede, sondern von den Schattenseiten der Gesellschaft.
Lothar Lutze, sein Übersetzer, war von 1965 bis 1992 Professor für Moderne Indologie an der Universität Heidelberg. Er unternahm viel, um die Hindi-Literatur in Deutschland bekannt zu machen, und Vishnu Khare war für ihn dabei ein entscheidender Berater und Begleiter. Ein wichtiges Ergebnis ihrer Zusammenarbeit war die Anthologie „Ochsenkarren. Hindilyrik der siebziger und achtziger Jahre“, mit der der Wolf Mersch Verlag 1983 die „Neue indische Bibliothek“ eröffnete.
Als bekannt gegeben wurde, dass Indien 2006 Gastland der Frankfurter Buchmesse sein solle, kontaktierte ich Lothar Lutze, um ihn um einen Beitrag zum Gastlandauftritt zu bitten. Er schlug damals vor, unter dem Titel „Die später kommen. Prosaische Gedichte“ einen Band mit Gedichten von Vishnu Khare zu veröffentlichen. Dieser Band erschien dann auch einige Monate vor Beginn der Buchmesse. Ich muss gestehen, dass diese Gedichtsammlung kein Bestseller wurde. Aber einige Werke dieses Buches gehören seither zu meinen Lieblingsgedichten, so etwa „Krishna über Draupadi“.
Wie ernst Lothar Lutze das Übersetzen nahm, zeigt sich daran, dass er sich nach der Anfertigung einer Rohübersetzung ungefähr zwei Wochen lang Zeit nahm, um zusammen mit dem Autor die Übersetzung Wort für Wort durchzugehen. Er sagte mir mal, dass er in dieser Zeit Indien noch mal ganz neu entdeckt habe. Und das sagte ein Mann, der sich seit Jahrzehnten mit Indien beschäftigte und auch einige Jahre lang dort gelebt hatte!
Im Jahre 2006 lernte ich Vishnu Khare auch persönlich kennen. Ich verstand bald, warum Lothar Lutze ihn so schätzte. Vishnu Khare war sehr intelligent und gebildet, es machte Spaß, mit ihm über Politik und Literatur zu diskutieren.
Wichtig war auch seine Mitarbeit an dem 2007 erschienenen Band „Felsinschriften“, eine Anthologie zeitgenössischer Hindi-Lyrik, ins Deutsche übersetzt von Monika Boehm-Tettelbach. Bei der Auswahl der Gedichte zu diesem Werk folgte die Übersetzerin weitgehend den Vorschlägen Vishnu Khares.
Auch in Indien wurde Vishnu Khare sehr geschätzt. So nannte ihn Prachand Praveer in einem Nachruf einen „literarischen Riesen“ und einen „sorgfältigen Architekten der modernen Sensibilitäten des modernen Hindi-Lesers und -Autors“. Sein Tod hinterlässt eine große Lücke.
Südasien 4/2018, S. 4-5
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