Aus dem Hindi übersetzt und nachgedichtet
von Vijay K. Chhabra, Brigitte Komarek-Chhabra und Johannes Laping
Jacinta Kerketta
Gedichte und ihre Geschichte:
„Ein Damm hält noch die Tränen“
Kampfgeist, Trauer, Melancholie, Hoffnung: Jacinta Kerketta verbindet Gefühle und Erfahrungen in einer ganz eigenen bildstarken Sprache. Ihre Gedichte sind immer Ausdruck ihres Protests gegen die Verhältnisse, unter denen die Adivasi in Indien leiden. Jacinta Kerkettas Übersetzer, Johannes Laping, hat Südasien-Wissenschaften studiert und setzt sich seit mehr als 20 Jahren für die Rechte der Adivasi ein, indem er Vorträge und Lesungen in Deutschland und Indien veranstaltet. Bei einem solchen Abend hat er vor drei Jahren Jacinta Kerketta kennengelernt:
„Als ich das erste Gedicht davon gelesen hab‘, war ich überwältigt, bin ich zusammengebrochen, in Tränen ausgebrochen und ich hab ihr das gesagt. Daraufhin hat sich eine sehr intensive Diskussion zwischen uns ergeben [...] Für mich ist die Begegnung mit ihr – und so wie sie die Verhältnisse ausdrückt in poetischer Sprache, in emotionaler Sprache ...ist für mich eigentlich die Krönung meiner Arbeit.“
2018, 168 Seiten, 14,00 Euro, ISBN 978-3-945191-28-6
Einige der Gedichte Jacinta Kerkettas wurden bereits in indische Schulbücher aufgenommen. Ihre besondere Leistung besteht darin, daß es ihr gelingt, die Hauptprobleme der Adivasi mit analytisch-realistischem Blick zu erfassen und in wenigen Sätzen abzubilden wie zum Beispiel die Umweltzerstörung, den Verlust des Lebensraums und der ethnischen Identität [...] Zugleich setzt Jacinta Kerketta neben die zum Teil erschreckend harten Bilder aus der Wirklichkeit poetische Formulierungen, die den Gedichten eine zeitlose Schönheit verleihen, die über die dargestellte Situation hinausweist und auch einem Publikum, das nichts von den Adivasi weiß, die Möglichkeit gibt, sich mit den beschriebenen Gefühlen zu identifizieren. Jacinta Kerketta erklärt, warum ihr das Nebeneinander von realistischer Schilderung und poetischer Überformung so wichtig ist: „Das ist eine Metapher. Es gibt Menschen und es gibt eine bestimmte Art von Mentalität, die die Erde und die Natur zerstören. Ich beschreibe die Konversation zwischen der Natur und den Menschen, die sie kaputt machen. Ich fühle, daß es das überall auf der Welt gibt. Aber weil ich aus einem Adivasi-Hintergrund komme, habe ich eine engere Verbindung zur Natur. Und ich sehe, daß die sogenannte entwickelte und zivilisierte Mentalität die Ideen der Adivasi zerstört genau wie ihre Flüsse und Berge. Die Adivasi wissen, daß nicht nur menschliche Wesen eine Seele haben, sondern auch die Natur. Deswegen sind die Menschen verpflichtet, alle anderen Seelen in der Welt zu respektieren.“ Ganz ernst und ruhig spricht Jacinta Kerketta. Sie strahlt mit ihren 35 Jahren geradezu Weisheit aus. Viel Schlimmes hat sie in ihrer Kindheit gesehen. Sie mußte erleben, wie ihrer Mutter Gewalt angetan wurde und wie mehrere Verwandte Mordanschlägen zum Opfer gefallen sind. Es ist ihr ganz wichtig, sich gegen die herrschenden Machtverhältnisse und Ungerechtigkeiten in ihrem Land aufzulehnen. Doch sie weiß, wie gefährlich das sein kann. Mit ihrer Lyrik hat sie einen Weg des friedlichen und nachhaltigen Protestes gefunden. „So viele Adivasi in Indien kämpfen und gehen dafür auf die Straße. Aber in den Kämpfen kann man sterben. Meine Gedichte dagegen werden immer noch da sein, wenn es mich nicht mehr gibt. Und vielleicht werden die kommenden Generationen verstehen, was unseren Vorfahren wichtig war und woran sie glaubten. Meine Lyrik wird überleben als Botschaft für unsere Kinder und damit kann ich Menschen erreichen – egal, ob sie Hindus, Moslems sind oder sonst einer Gruppe angehören. Menschen, die eine Seele haben, lassen sich auch von Gedichten berühren.“
Kerstin Bachtler, SWR2 am Samstagnachmittag
Jacinta Kerketta im Interview mit „Il Manifesto“, Rom, 5.5.2018 über ihren Weg zur Lyrikerin:
„Ich hatte beschlossen, Journalistin zu werden, und so schrieb ich mich an der Fakultät für Massenkommunikation der Universität Ranchi ein (dafür schulde ich meiner Mutter Dank). Das geschah, nachdem ich Zeugin von intensiver Gewalt geworden war, der von den lokalen Reportern keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt worden war. Es wäre irreführend, in diesem Zusammenhang über Verkommenheit zu sprechen, oft handelte es sich um Faulheit. Ich dagegen wollte erzählen, wie es wirklich war. Und es waren außergewöhnliche Jahre, zuerst als Auszubildende, da und dorthin geschickt, und dann die Preise (für meine Arbeit), einige wichtige ... bis zu dem Punkt, an dem ich irgendwann beschloss, die Tageszeitung Prabhat Khabar zu verlassen und meine Arbeit als freie Journalistin fortzusetzen.
Da war es eine Freude, früh am Morgen aufzustehen, mit meinem Motorroller unterwegs zu sein, der Nachmittag dann ganz für mich. Das, was ich wollte, konnte ich veröffentlichen, wenn auch nur auf meiner facebook-Seite. Man muß feststellen, daß in dieser Periode totaler Freiheit die Poesie anfing, Raum zu gewinnen, nicht als Alternative zum Journalismus, allenfalls als direkte Übermittlung von dem, was in meinem Herzen lag - übergangslos zu den Herzen derer, die mich lesen. Das Bewusstsein dafür, dass der Journalismus auf bestimmten Ebenen die Hände gebunden hat, hat diese Änderung meines Faches beeinflusst. Es ist schwierig, in der mineralstoffreichen Region, in der ich lebe, keinen Druck zu bekommen. Das hat meinen Rückzug aus der journalistischen Arbeit noch leichter gemacht.“
In diesen Tagen ist Jacinta in Italien, Protagonistin einer literarischen Neupräsentation, die würdig eines Stars ist: Gestern in Ca‘ Foscari [spätgotischer Palast, Sitz der Universität] Venedig zu einer Lesung unter dem überaus faszinierenden Titel „Stimmen der Natur, Stimmung der menschlichen Wesen“. Mailand wird sie heute sehen als Gast der Frauenbuchhandlung und am Montag als Gast der staatlichen Universität. Nächste Stationen sind Turin, Rom – „und das ohne jegliches crowdfunding. Denn es gibt Situationen wie jetzt: Uns ist gelungen, etwas in Bewegung zu bringen, um etwas sehr Befriedigendes zu schaffen und um die Beziehungen zu vertiefen“, kommentiert ihr Herausgeber/Literaturagent/Freund Johannes Laping, der seit vielen Jahren jene Region der Revolte besucht (in welcher Jacinta geboren wurde), als Aktivist der kleinen Adivasi Koordination, zu deren Gründung im Jahr 1993 er beigetragen hat, als sich um die indigenen Bevölkerungen keiner etwas scherte.
Il Manifesto, Rom 5.5.2018
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