Hans Harder

Verkehrte Welten

Bengalische Satiren aus dem kolonialen Kalkutta

Zweisprachige Ausgabe  Bengalisch - Deutsch

 

In den 13 Texten dieses Bandes entsteht ein neues Bild des kolonialen Indiens: Witzig, geistreich, zielsicher und ausgesprochen selbstironisch nimmt hier eine kolonial geprägte Mittelklasse gelegentlich die Kolonialherren, vor allem aber sich selbst und ihre Zeit aufs Korn

Rezension von Dr. Georg Lechner:

 

Verkehrte Welten

 

Bengalische Satiren aus dem kolonialen Kalkutta

 

Mit der Veröffentlichung der zweisprachigen deutsch-bengalischen literaturwissenschaftlichen Anthologie „Verkehrte Welten. Bengalische Satiren aus dem kolonialen Kalkutta"‚ von Hans Harder, Professor für Neusprachliche Südasienstudien am Heidelberger Südasieninstitut, hat der Draupadi Verlag einmal mehr seine zwei erklärten Verlagsschwerpunkte Literatur und Sachbücher aus und über Indien gleichzeitig bedient und sich mit dieser in der Qualität der literarischen Auswahl und der Übersetzungen anspruchsvollen Schrift beachtliche Verdienste erworben. Die Edition zeichnen eine kenntnisreiche Einleitung, gezielte Einführungen zu den Autoren, ein ausführlicher Handapparat und akribisch gehandhabte Übersetzungen aus.

 

Die literarische Gattung der Satire orientiert sich bislang nicht an asiatischen oder indischen, sondern vornehmlich an bekannten westlichen Vorbildern, von Miguel de Cervantes‘ „Don Quijote‚, Francois

2011, 336 Seiten, 24,80 Euro, ISBN 978-3-937603-52-0


Rabelais’ „Gargantua und Pantagruel" bis zur Commedia dell’ Arte und Sebastian Brants „Narrenschiff" oder der Witzfigur des Punch. Bereits die Römer stellten bei der Betrachtung des Weltgeschehens lapidar fest „difficile est satiram non scribere".

 

Der für die vorliegende Anthologie ausgewählte Zeitraum 1820 bis 1930 mag auf den ersten Blick eher beliebig erscheinen, ist aber historisch durchaus bedacht. Zwar dominierten die Briten bereits von der Mitte des 18. Jahrhunderts an von Bengalen aus Indien, aber im 19. Jahrhundert erlebt Kalkutta – bis 1911 auch Hauptstadt der Kolonialzeit– seine Blüte. In dieser Zeit wird nicht nur die erste bengalische Zeitung „Samachar Darpana" gegründet (1820); das Englische löst das Persische als offizielle Verwaltungssprache ab (1835). Die East India Company übergibt die politische Verantwortung an die englische Krone (1858). Auch gesellschaftspolitische und kulturelle Ereignisse prägen diese Zeit: 1828 gründet Ram Mohan Roy die wichtige reformhinduistische Bewegung Brahmo Samaj, 1829 kommt es zum ersten offiziellen Verbot der Witwenverbrennung (sati) und 1843 zu der Abschaffung der Sklaverei, 1841 wird Rabindranath Tagore und 1869 Gandhiji geboren, 1913 erhält Tagore als bis heute einziger Inder den Nobelpreis für Literatur, 1930 beginnt Mahatma Gandhi schließlich seine große Kampagne des zivilen Ungehorsams, der „Civil Disobedience" und damit des Vorbilds für alle späteren gewaltfreien demokratischen Bewegungen.

 

In dieser Blütezeit bengalischer Literatur schrieben klassische Autoren wie Rammohan Ray, Kaliprasanna Sinha, Michael Madhusudan Datta, Bankimchandra Chattopadhyay, Sukumar Ray und natürlich Rabindranath Tagore, die alle in der alten vedischen Literatur Indiens ebenso ihre literarische Heimat hatten wie in der modernen europäischen Literatur und wohl gerade durch diese dualistische Spannung satirisch herausgefordert wurden. Keine andere indische Region war wohl während der Kolonialzeit so kreativ und innovativ mit der Spannung zwischen den alten Traditionen und den Herausforderungen der europäischen Moderne umgegangen wie Bengalen. Davon zeugen die Reformbewegungen Brahmo Samaj und Young Bengal ebenso wie Sri Aurobindo, Swami Vivekananda und die Tagore Familie oder wie die späteren internationalen Namen Uday Shankar, Ravi Shankar, Satyajit Ray oder Amartya Sen. Für die hier in Frage kommende Berichtszeit drückte sich dieser schöpferische Dualismus und diese Spannung in der satirischen Literatur über wiederkehrende Themen aus: Exzesse westlicher Zivilisation von Alkoholkonsum, Materialismus und Diesseitigkeit, Promiskuität und Liberalität empfahlen sich der satirischen Behandlung in ihren verzerrten indischen Auswirkungen auf die alten orthodoxen Werte von der Frauenemanzipation, der verbreiteten Drogenabhängigkeit, der Inkarnation des englischen Saheebs im indischen Babu, wechselnden Religionszugehörigkeiten und spiritueller Anmaßung oder den falschen Bildungsansprüchen und dem intellektuellem Plagiat.

 

Was stilistisch überrascht, ist einmal der kreative Mut, ja Übermut, zur Groteske in der Darstellung der gesellschaftlichen Übelstände, so etwa in dem „Blütenkapitel‚ von Bhabanicharan Bandhopadhyay, im „Tohuwabohu" von Sukumar Ray (dem Vater des international bekannten Filmemachers Satyajit Ray). Davon heben sich Texte ab, die bei aller Übertreibung eine große sprachliche und erzählerische Disziplin aufweisen. Hierher gehören etwa „Der große Markt aus Kamalakanta" von Bankimchandra Chattopadhyay, Kaliprasanna Sinhas „Eulenskizzen" oder Tagores Gedicht „Bengalische Helden": Komplexe bengalische Texte, die auch der deutschen Übersetzung ihre Grenzen setzen und sprachliche Kompromisse auferlegen. In manchen Satiren überwiegt die bitterböse gesellschaftliche Kritik wie in der Geißelung des Sündenpfuhls von Kalkutta in der „plötzlichen Inkarnation‚ von Kaliprasanna Sinha oder in der beißenden Zivilisationskritik vom „Großen Markt" von Bankimchandra Chattopadhyay. Amüsant überzogen wirken Reportagen aus England wie „Basantak" oder „Verkehrte Welten" von Rajshekhar Basu. Besonders gelungene an Punch erinnernde Karikaturen begleiten die satirischen Texte der Zeitschrift „Basantak", die Zeichnungen bei „Tohuwabohu" in Sukumar Ray’s Zeitschrift „Sandesh", die Karikaturen zur Frauenrevolte von Yatindranath Sen und jene von Banabihari Mukhopadyay in „Spirituelle Nation".

 

Natürlich ist die Versuchung, satirische Leckerbissen aus diesem reichen Warenangebot herauszugreifen groß und es soll ihr trotz der Gefahr einer Verkürzung nicht widerstanden werden. Um bei dem Bild der „Ware" zu bleiben: Die vom Westen übernommene totale Kommerzialisierung des kulturellen Lebens wird im „großen Markt" von Bankimchandra Chattopadhyay in absurde Höhen getrieben. Wenn man vom Schönheitsmarkt zum Bildungsmarkt kommt, vermischensich das Konkrete und das Abstrakte unentwirrbar: „Wir verkaufen die Topfheit, die Bildheit, die S-heit und die N-heit: Hat man Reis zu Hause, ist’s die Seinheit, sonst die Neinheit". 

 

Die Lehren der tief spekulativen indischen Nyaya-Philosophie, der im Westen kaum entwickelten Doktrin des defizitären Seins, werden zu Nüssen. „Die Kokusnuss des Defizits ist vierfaltig. Wenn du Reis im Haus hast und ich nicht, so ist das ein referentielles Defizit. Solange ich den Reis nicht bekomme, besteht ein apriorisches Defizit; wenn Unkosten entstehen, handelt es sich um ein annihilierendes Defizit; und ein ultimatives Defizit haben wir ohnehin immer im Haus".

 

Auch Werbeprospekte bedienen sich bei Sukumar Ray und seinem „Tohuwabohu" vedischer Hinweise, etwa des aus der Hindu-Mythologie bekannten allwissenden Urraben „Bhusandi", der seine eigenen Geschäftsmethoden hat: „Wir berechnen alle Arten von Berechnungen, ob berechnend oder unberechnend, Einzelhandel oder Discount, mit wissenschaftlicher Methode. Preis 3.5 cm. ... Bei Einsendung einer Beschreibung mit allen nötigen Details wie z.B. Ihrer Schuhgröße, Körperfarbe, Ihres Ohrensausens (wenn vorhanden), Ihres Lebendigseins (wenn vorhanden) usw. schicken wir per Rückpost unseren Katalog". Der gleiche Rabe begründet die spezifische Art seiner Rechnungen als notwendig, um „vor Gericht Bestand zu haben". Die Rechnungslegung spricht für sich selbst: „Memorandus est jetzo notieret die Rabelei des Rabenhernn Rabenschwarz. § Die Dokumente und Unterlagen der Immobilienverluste, allderen Erben trotz Eigentümer und Besetzer hier in den Quästorenuffizien behandschlaget & IN Kraft gesetzet beständiges Anrecht beziehungsweise räbischen Pachtvertrag erworben. § Als allumgreifende Pflichten verfüget in ehrlicher oder unehrlicher Ausführung der Richterei, zum Gerichte oder zur Verhandlung bestellet, der Angeklagte. Kläger, Zeuge, Beweis et cetera der Prozess anberaumet, die Einigung verfüget, die Verfügung erteilet, die Versteigerung annoncieret ".

 

Die Satire gibt jeder literarischen Gattung, also auch dem Theater, ihre Chance und verwickelt bereits in der Eingangsgeschichte von Rammohan Ray einen Pater und seine drei Schüler in ein köstliches theologisches Rededuell über das Wesen der christlichen Gottheit. 

 

„Der Pater fragte seine drei Schüler: Hört, meine Lieben. Ist Gott einer oder viele? Der erste Schüler antwortete: Gott ist drei. Der zweite Schüler sagte Gott ist zwei. Und der dritte Schüler antwortete: Gott existiert nicht". Alle drei begründen ihre Aussagen überzeugend, der Pater aber bezichtigt sie der Irrlehre und verspricht ihnen nach dem Tod „ewige Qualen". Die Schüler reagieren irritiert: „Das ist sehr eigenartig. Der Herr unterweist uns in einer Religion, die wir nicht verstehen können, und sagt danach, dass wir ewig in die Hölle müssen, weil wir nicht verstehen konnten".

 

Aber auch die Lyrik lässt ihre satirischen Stilblüten sprossen. Rabindranath Tagores „Bengalische Helden" nehmen sich bescheiden zurück, um desto größer zu erscheinen.

 

„Mit Kartoffel-, Reis-, Bananen-

Brei auf dem Bananenblatt

pflegten einst die Seher zu lernen

mit vielerlei Askesen.

Wir essen zwar am Restauranttisch, 

schwänzen’s College, doch in uns

ist die brahmanische Urkraft, die wir

Manu englisch lesen."

 

Dvijendralal Roy mutet diesen Helden mal „Was Neues" zu und empfiehlt:

 

„All die Helden von Bengalen drängt es sehr zur Tat,

deshalb schneidet euch nun schnell die Köpfe ab.

Fallt von Bergen oder lauft, ersauft im Ozean,

sterbet oder tötet, das wär mal ein neuer Plan.

Lebt auf neue Weise, oder sterbt auf neue Weise,

macht doch mal was Neues, Leute, macht doch mal was Neues."

 

Mit dieser Anthologie von 13 sehr unterschiedlichen Satiren wird eine bisher weitgehend unbekannte Seite bengalischer Literatur vorbildlich eingeführt. Wie immer man den Mehrwert dieser satirischen Erzählungen während der britischen Kolonialzeit gegenüber der „seriösen" bengalischen Literatur in dieser Periode einschätzen mag, so bleibt es gerade nach ihrer Lektüre bei dem lateinischen Diktum von der Schwierigkeit, keine Satire zu schreiben. Nicht nur Sprachstudenten können das von dieser zweisprachigen Anthologie in vergnüglicher aber nicht minder „seriösen" Weise lernen.

 

Dr. Georg Lechner, Indien-Institut München


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