Rabindranath Tagore,                                 Helene Meyer-Franck u. Heinrich Meyer-Benfey

Mein lieber Meister

Briefwechsel 1920 - 1938

Hg. von Martin Kämpchen und Prasanta Kumar Paul

 

Aus dem Englischen übersetzt von Ingrid von Heiseler

 

Einleitung

 

Eine einzigartige Beziehung –

ein einzigartiger Briefwechsel

 

Rabindranath Tagore (1861-1941) wurde in Kalkutta in einer Familie geboren, die sich durch vielfältige kulturelle Interessen auszeichnete. Innerhalb der Großfamilie konnte er ungehindert seine Talente entfalten. Im Innenhof des großen Hauses spielte man Theater, die Familie gab eine eigene Zeitschrift heraus. Tagore begann früh, Gedichte zu schreiben, Lieder zu komponieren und Theater zu spielen. Mit nur geringer formaler Schulbildung verbrachte er genialisierend, unruhig und immer neuen romantischen Stimmungen ausgesetzt, seine Jugend. Mit dreißig Jahren war er der bedeutendste Dichter des Bengalischen. Er übernahm die Aufsicht der Landgüter im Familienbesitz und lernte das harte Leben der Bauern kennen. Er gründete in Santiniketan, einem Ort nördlich von Kalkutta, eine alternative Schule, die statt bloßem Bücherwissen und Einpauken ein Lernen durch Spiel, Musik und Theater bevorzugte. Schon als jungen Menschen hatte die Familie ihn nach England zum Studium geschickt. Tagore besuchte England 1912-1913 wieder.

2011, 144 Seiten, 14,80 Euro, ISBN 978-3-937603-44-5


 

Er hatte eigene bengalische Gedichte in Englisch übersetzt, und zwar in eine lyrische Prosa. 1912 erschien sein erster schmaler Band in London: Gitanjali, der ihm – für alle überraschend – 1913 den Nobelpreis für Literatur einbrachte. Es war der erste Nobelpreis an einen Dichter, der außerhalb der westlichen Hemisphäre lebte. Seitdem fühlte er sich als Stimme Indiens, sogar Asiens, die die Kultur des Ostens der politischen Herrschaft und Unterdrückung der westlichen Kolonisatoren entgegenhielt. Er machte große Weltreisen, um diese Stimme Asiens hörbar zu machen.

 

Rabindranath Tagore hatte eine besondere Zuneigung zum deutschen Volk, denn es war von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs gedemütigt worden. Tagore hoffte, den Deutschen Trost und Mut zu spenden. Seine Affinität zu Deutschland war umso stärker, als sein Land ebenso von seinen Kolonisatoren, den Engländern, gedemütigt wurde. In beiden Ländern entdeckte er ein merkwürdiges Ungleichgewicht zwischen ihrer kulturellen Größe und der politischen Situation. Darum war es dem Dichter wichtig, Deutschland, sobald es nach dem Ersten Weltkrieg möglich war, zu besuchen. Im Jahr 1920 versuchte er, Deutschland von Holland aus zu erreichen.

 

Doch hatte er nicht früh genug ein Visum beantragt. Darum musste er weiterreisen. Im Jahr darauf, 1921, reiste er etwa einen Monat lang durch Deutschland. Danach besuchte er Deutschland wieder in den Jahren 1926 und 1930. Der Besuch von 1921 hatte eine große öffentliche Wirkung. Tagore hielt Vorträge vor überfüllten Sälen, man riss sich darum, ihn zu sehen und zu sprechen. Empfänge, Ehrungen nicht nur von der literarischen Welt, sondern auch von Universitäten, Politikern und Adeligen waren üblich.

 

Leider ergaben sich in Deutschland keine bleibenden Freundschaften, so wie in anderen Ländern. Die Korrespondenz mit deutschsprachigen Persönlichkeiten ist darum sehr begrenzt. Die drei Personen, mit denen er einen längeren Briefwechsel pflegte, waren Hermann Graf Keyserling, Paul Geheeb und Helene Meyer-Franck. Keyserling war ein philosophischer Schriftsteller, dessen Ruhm in den 1920er Jahren auf seinem Höhepunkt stand. Paul Geheeb und seine Frau Edith waren die Gründer der Odenwaldschule bei Heidelberg. Tagore besuchte die Schule im Jahr 1930 und blieb etwa ein Jahrzehnt mit Geheeb in Kontakt. Helene Meyer-Franck war eine der Übersetzerinnen des Dichters vom Englischen ins Deutsche und hatte den längsten und ausführlichsten Briefwechsel mit ihm. Er begann schon vor Tagores Besuch in Deutschland, im Jahr 1920, und endete erst 1938, als der indische Dichter gebrechlich geworden war. Helene Meyer-Franck war mit einem Li- teraturdozent, Heinrich Meyer-Benfey, verheiratet, der an dieser Korrespondenz teilnahm.

 

Der Hauptgrund, warum Tagore so wenige dauerhafte Freundschaften mit Deutschen eingehen konnte, war offensichtlich die Sprachbarriere. War es Schriftstellern und Gelehrten, die hohe Achtung für Tagore empfanden, möglich, eine angemessen formulierte Korrespondenz auf Englisch zu führen? Wahrscheinlich nicht.

 

Ein anderer Grund ist der, dass mit ein paar Ausnahmen die kulturelle Elite in Deutschland Tagores Beliebtheit und den hohen Verkaufszahlen seiner Bücher eher misstrauisch gegenüberstand. Hätte ein Dichter, der wirkli- che dichterische Qualitäten besitzt, so beliebt werden können? fragten viele Intellektuelle. Natürlich war in dieser Haltung mehr als nur ein Körnchen Neid enthalten. Aber sie verstanden intuitiv besser als andere, dass Tagores dichterische Texte durch die doppelte Übersetzung aus dem Bengalischen ins Englische und aus dem Englischen ins Deutsche geschwächt wurden. Aber nur einige, unter ihnen Thomas Mann und Rainer Maria Rilke, drückten das in ihren Briefen aus: Sie könnten den wahren Wert der Dichtung nicht einschätzen, wenn sie die Bücher in deutscher Sprache läsen. Deshalb bewunderten ihn jene, die Tagore schätzten, nicht so sehr wegen seines Werkes, sondern wegen seiner Persönlichkeit, seiner philosophischen Ideale und seiner Gedanken über einen Ost-West-Dialog. Hermann Keyserling äußerte das offen und lebhaft. Stefan Zweig, Kurt Wolff, Rudolf Otto, Martin Buber und Paul Natorp äußerten denselben Eindruck in privaterem Rahmen.

 

In diesem Kontext war die Beziehung, die Helene Meyer-Franck und ihr Mann Heinrich Meyer-Benfey mit Rabindranath Tagore entwickelten, einzigartig. Sobald Tagores erstes auf Englisch veröffentlichtes Buch, „Gitanja- li“, erschienen war, begann ihre Bewunderung für seine englischen Schriften. Da Helene Meyer-Franck die meisten englischen Bücher von Rabindranath Tagore ins Deutsche übersetzte, kannte sie seine Schriften wahrscheinlich besser als alle anderen Menschen in Deutschland. Tatsächlich werden die Stärken und besonders die Schwächen eines Textes während des Übersetzens deutlicher als jedem noch so aufmerksamen Leser. Trotz ihrer genauen Kenntnis von Tagores englischen Schriften drückte Meyer-Franck niemals auch nur die Andeutung einer Kritik über des Dichters englische Fassungen der ursprünglich in Bengalisch geschriebenen Gedichte aus.

 

Dennoch fanden Helene Meyer-Franck und Heinrich Meyer-Benfey die englischen Texte offenbar unbefriedig-end. Sie waren nämlich die einzigen der vielen intellektuellen und gebildeten Bewunderer Tagores in Deutsch- land (die Indologen eingeschlossen), die es dabei nicht bewenden ließen. Sie wollten es genauer wissen und entschlossen sich deshalb, Bengalisch zu lernen, um den indischen Dichter im Original zu lesen.

 

Heinrich Meyer-Benfey fing im Jahr 1921 an, ernsthaft Bengalisch zu lernen, bald nachdem er und seine Frau Tagore zum ersten Mal begegnet waren. Da er Wissenschaftler war, stürzte er sich mit dem Ernst, den ein Aka- demiker sich schuldig zu sein glaubt, in dieses Unternehmen. Er bat Rathindranath, den Sohn des Dichters, in einigen Briefen um Textbücher und Lesestoff. Da Heinrich Meyer-Benfey früher Sanskrit studiert hatte, fand er es möglicherweise nicht allzu schwer, in die bengalische Sprache einzudringen. Aber er hielt nicht durch. Der Grund dafür war, dass seine Pläne, gemeinsam mit seiner Frau Deutschland zu verlassen und in Tagores Santiniketan ein neues Leben zu beginnen, scheiterten. Sie bekamen kein Visum von der britischen Regierung. Meyer-Benfey hatte Bengalisch nicht mit der Absicht gelernt, Tagore zu übersetzen, sondern vor allem, um in Santiniketan die Sprache sprechen zu können.

 

Helene fing viel sp.ter an, Bengalisch zu lernen. In den frühen 20er Jahren war sie viel zu sehr damit beschäftigt, Tagores englische Bücher eines nach dem anderen ins Deutsche zu übersetzen. Aber als sie erst einmal mit dem Lernen angefangen hatte, hielt sie zehn Jahre lang durch, und es gelang ihr nicht nur, Geschichten und Gedichte zu übersetzen, sondern sogar, vielen Schwierigkeiten zum Trotz, zwei Übersetzungen zur Veröffent-lichung zu verhelfen.

 

Die Beziehung von Helene Meyer-Franck und Heinrich Meyer-Benfey zu Rabindranath Tagore war in ihrer Aufrichtigkeit und Reinheit der Liebe zu dem Dichter einmalig. Diese Liebe nährten sie unbeirrbar ungefähr 25 Jahre lang, das heißt, bis zu ihrem Tod. Sie unterschieden nicht, wie andere Intellektuelle, zwischen Person und Werk, sondern sie sahen beide als eines an. Sie begegneten dem Dichter viermal, jedoch übertrafen die Hochachtung und die Verehrung für seine Person nicht die für sein Werk.

 

Helene war Tagore deutlich näher als Heinrich. Sie verbrachte auch beträchtlich mehr Zeit mit ihm: zuerst mit der Übersetzung seiner Werke aus dem Englischen, dann mit Bengalischlernen und danach mit der Überset- zung seiner Texte aus dem Bengalischen. Wenn man ihre Briefe liest, staunt man über den lieblichen, lyrischen Ton, der dem der poetischen Sprache Tagores nicht unähnlich ist. Offensichtlich ist sie mit ihrer einfachen und reinen Verehrung tiefer in Tagores Geist eingedrungen als alle anderen in Deutschland, die sich über Tagore geäußert haben.

 

Heinrich Meyer-Benfeys Charakter war komplexer als der seiner Frau. Da er ein gründlicher Wissenschaftler war, kam ihm die dichterische Sprache nicht leicht von den Lippen. Sein Englisch war bedeutend weniger flie- ßend als das seiner Frau. Dadurch erscheint er selbst etwas hölzern. Wer seine deutschen Aufsätze liest, wird dieses Bild korrigieren müssen. Seine Sprache war im Deutschen geschmeidig, vielleicht etwas trocken; seine Kenntnis der Literatur war außerordentlich weit gefächert und sein literarisches Urteil mutig und ehrlich, unbeeinflusst von Moden und Lieblingsideen. Es war ein großer Gewinn für den Dichter, dass ein solch ausgezeichneter Geist sich dem Studium seines literarischen Werkes widmete. Außer Heinrich Meyer-Benfey gibt es keinen anderen deutschen Gelehrten, der so viel und eine so lange Zeit hindurch über Tagore geschrieben hat.

 

Es liegt in der Natur der Dinge, dass von allen Deutschen dieses bemerkenswerte Ehepaar den längsten und reichsten Briefwechsel mit Rabindranath Tagore geführt hat. Da Helene Meyer-Franck sehr gut Englisch ver- stand, war die Sprache keine Barriere zwischen ihr und dem Dichter. Die Briefe des Ehepaares an Tagore werden im Rabindra-Bhavan-Archiv von Santiniketan (West-Bengalen) aufbewahrt. Ziemlich viele Briefe von Meyer- Benfey sind an Rathindranath Tagore in seiner Eigenschaft als Privatsekretär seines Vaters gerichtet. Diese Briefe sind in Stil und Inhalt überwiegend geschäftsmäßig gehalten.

 

In diese Ausgabe nehmen wir alle Briefe von Helene Meyer-Franck und Heinrich Meyer-Benfey auf, die an Tagore und an seinen Sohn gerichtet sind. Die Briefe Rabindranaths und Rathindranaths an Helene Meyer-Franck und Heinrich Meyer-Benfey waren lange im Gewahrsam von Otto Melchert (Hamburg), ebenso drei an das Ehepaar gerichtete Briefe von C. F. Andrews. Auch sie nehmen wir in diese Ausgabe auf. Otto Melchert war ein bekannter Verleger, der den Deutschen Literatur-Verlag leitete; er war der literarische Erbe von Helene Meyer-Franck und Heinrich Meyer-Benfey, die keine Kinder hatten. Im Juni 1999 übergab er die Briefe Tagores dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach, ein Jahr später, am 28. Juni 2000, starb er im Alter von 88 Jahren in einem tragischen Autounfall.

 

Helene Meyer-Francks Leben

 

Helene Meyer-Franck scheint nur in ihren Übersetzungen weiterzuleben. Wir konnten nur sehr wenige Einzelheiten über ihre Lebensumstände erfa ren. Es gibt keine veröffentlichten Dokumente. Ihr literarischer Erbe, Otto Melchert, konnte uns einige Informationen geben. Er befragte alte Bewohner Buxtehudes, einer norddeutschen Stadt, wo Helene Meyer-Franck und ihr Mann ihre letzten zehn Lebensjahre verbrachten. Aber nur einer, der Journalist Martin Jank, antwortete mit ein paar zusätzlichen Einzelheiten.

 

Helene Franck wurde am 28. September 1873 in Schwerin geboren. Sie wurde in Göttingen zur Gymnasial-lehrerin ausgebildet, wo sie Heinrich Meyer-Benfey kennenlernte. Sie heirateten am 5. Oktober 1906 und zogen 1911 nach Hamburg. Sie unterrichtete in einem Gymnasium. Das Ehepaar ließ sich in einem Vorort Hamburgs nieder, in Wandsbek, wo sie die meisten ihrer Briefe an Tagore schrieben. Sie gab den Schulunterricht Ende 1920 auf, um, wie sie schrieb, „meine ganze Zeit dieser Aufgabe zu widmen“, nämlich dem Übersetzen Tagores. 1935 zog das Ehepaar nach Buxtehude, wo der Ehemann im Dezember 1945 starb. Sie folgte ihm ein Jahr später, am 26. Dezember 1946.

 

Neben Tagores Texten übersetzte sie einige Werke bekannter britischer Autoren. Die Interpretation von Robert Brownings The Ring and the Book ist ihre einzige eigene Schrift. Aber nach ihrem Tod veröffentlichte Otto

Melchert ein Heft, in dem einige ihrer verstreuten persönlichen Gedanken unter dem Titel „Gedanken stiller Stunden“ versammelt sind.

 

Helene Meyer-Francks Übersetzungen

 

Helene Meyer-Franck war nicht die Erste in Deutschland, die Rabindranath Tagore ins Deutsche übersetzte. Marie Luise Gothein begann diese Arbeit mit der Übersetzung von Gitanjali. Danach verpflichtete Kurt Wolff verschiedene andere Übersetzer: Hans Effenberger, Elisabeth Wolff-Merck, Annemarie von Puttkamer, Hedwig Lachmann, Gustav Landauer und Emil Engelhardt. Außerdem waren einige einzelne Gedichte oder Gedicht gruppen, übersetzt von bekannten und unbekannten Autoren und wahrscheinlich ohne Zustimmung von Kurt Wolff, in verschiedenen deutschen Zeitschriften erschienen. Erst von 1918 an hatte Helene Meyer-Franck Gelegenheit, mit der Übersetzung Tagores zu beginnen, nachdem schon sieben Bücher mit Übersetzungen auf dem Markt waren. In ihrem wahrscheinlich ersten Brief, den sie im Februar 1920 schrieb, berichtete sie darüber, wie sie dazu kam, sich dieser Übersetzungsarbeit zu widmen. Getreu der kulturellen Prägung ihrer Zeit, beeilte sie sich, die Bedeutung, die ihr Mann für ihre Arbeit gehabt hatte, zu erklären: Er hatte sie mit Gitanjali bekannt gemacht und ihr Interesse an dem indischen Dichter geweckt.

 

Der erste schmale Band, der veröffentlicht wurde, war Der Geist Japans, ein Aufsatz Tagores über Japan. Danach übersetzte Meyer-Franck alle anderen Bücher. In der kurzen Zeitspanne von sieben Jahren (1918 – 1925) erschienen nicht weniger als vierzehn Übersetzungen von ihr im Druck – eine erstaunliche Leistung, wenn man bedenkt, dass darunter so komplexe und umfangreiche Bücher wie die Romane Das Heim und die WeltDer Schiffbruch und Gora waren. Als ob das noch nicht genug gewesen wäre, stellten sie und ihr Mann gemeinsam die achtbändige Ausgabe der Gesammelten Werke von Rabindranath Tagore9 zusammen und gaben sie gerade zu der Zeit heraus, als 1921 der Tagore-Kult in Deutschland seinen Höhepunkt erreicht hatte. Es waren die ersten Gesammelten Werke von Tagore in einer Fremdsprache. Außer Die Gabe des Liebenden enthielten alle von Helene Meyer-Franck übersetzten Werke nur Prosa, denn die Lyrikbände waren vorher von anderen übersetzt worden.

 

Ihr Briefwechsel mit Tagore lässt erkennen, dass sie zusätzlich um 1923/24 wenigstens zwei Bücher – die Briefe von Glimpses of Bengal und die Vorlesungen von Creative Unity – übersetzte, deren Veröffentlichung Kurt Wolff ablehnte. Die Inflation und schwindendes Interesse an dem indischen Dichter ließen weitere Veröffentlichungen als wirtschaftliches Risiko erscheinen.

 

Wolff, der die Exklusivrechte an allen Übersetzungen von Tagores Werken aus dem Englischen besaß, blockierte häufig die Versuche anderer Übersetzer oder Verleger, neue deutsche Übersetzungen in einem anderen Verlag zu veröffentlichen, sogar nachdem er selbst das Interesse daran verloren hatte, neue Titel Tagores herauszugeben. Meyer-Franck versuchte, diese starre Haltung zu umgehen und bat Tagore, ihr „etwas“ zu schicken, das noch nicht in England veröffentlicht worden sei. Das konnte dann ohne Wolffs Zustimmung übersetzt und in der populären Universal-Bibliothek des Reclam-Verlags in Leipzig veröffentlicht werden. Der Verlag hatte Meyer-Franck dazu aufgefordert, einen Band aus Texten Tagores herauszugeben.

Nach 1945 wurden nur sechs von Helene Meyer-Francks Übersetzungen wiedergedruckt. Alle anderen Bücher Tagores wurden, in der Absicht, die Sprache zu modernisieren, neu aus dem Englischen übersetzt.

 

Wie schon gesagt, bestand Helene Meyer-Francks besondere Leistung darin, dass es ihr, allen Schwierigkeiten zum Trotz, gelungen war, so gut Bengalisch zu lernen, dass sie Rabindranath Tagore im Original lesen und einige seiner Werke direkt ins Deutsche übersetzen konnte. In diesem Briefwechsel werden wir Zeugen des allmählichen Fortschritts ihrer Bemühungen. Die erste Frucht dieser Mühe war ein schmales Buch von nur achtzig Seiten, das drei Novellen enthält und wahrscheinlich 1930 erschien. Es wurde vom renommierten Philipp Reclam Verlag veröffentlicht. Danach übersetzte sie weiter Lyrik, aber die vom Naziregime geprägte politische Situation erlaubte es ihr nicht mehr, ihre Übersetzungen zu veröffentlichen.

 

Wusste Tagore ihre zuverlässige und einsame Ausdauer zu schätzen? Ja, das tat er. Zwar kennen wir keine Bemerkung, die er über ihre Übersetzung gemacht hätte, aber er gab einige ihrer deutschen Lyriküber-setzungen an den deutschen buddhistischen Mönch Anagarika Brahmachari Govinda weiter, der zwischen 1931 und 1936 in Santiniketan lebte. Es gibt drei in den Jahren 1935/36 von diesem an Meyer-Franck16 geschriebene Briefe, in denen er höflich und überzeugend seine Hochachtung vor ihren Übersetzungen ausdrückte. Tagore, der bei einigen Gelegenheiten Bedauern über seine Unfähigkeit, diese Übersetzungen zu verstehen, aussprach, war nichts desto weniger großzügig mit seinem Lob:

„... ich bin tief gerührt, dass Sie es auf sich genommen haben, Bengalisch zu lernen, nur um mich im Original zu lesen.“

 

Schon 1935 hatte Meyer-Franck ihm ein Typoskript geschickt, das 40 Gitanja- li-Übersetzungen und 7 aus anderen Sammlungen enthält. A. B. Govinda lobte sie recht begeistert. Aber allen Anstrengungen zum Trotz war es Meyer-Franck unmöglich, sie vor dem Zweiten Weltkrieg zum Druck zu befördern. Eine Anthologie von Tagore-Gedichten, die nur wenig mit dem Typoskript übereinstimmt, kam 1946, gleich nach dem Krieg, heraus. Sie enthält 23 Gitanjali-Übersetzungen und 24 Übersetzungen aus anderen Büchern. Sie erlebte drei Auflagen.

 

Heinrich Meyer-Benfeys Leben

 

Dass Heinrich Meyer-Benfeys Leben besser dokumentiert ist als das seiner Frau, rührt daher, dass sie nach seinem Tod seine Biografie weiterschrieb. Auch ohne dieses knappe, privat gedruckte Büchlein wäre sein Leben besser bezeugt, denn er war Universitätslehrer und schreibender Wissenschaftler, seine Frau aber „nur“ Übersetzerin.

 

Heinrich Meyer wurde am 14. März 1869 in Liebenburg in der Nähe von Goslar geboren. Seit seiner frühen Jugend genoss er eine breit gefächerte Erziehung und lernte Latein, Französisch, Englisch und Griechisch. Er studierte an der Universität Göttingen im Hauptfach deutsche Literatur. Er beschäftigte sich auch mit Linguistik, englischer Literatur und Indologie und widmete fünf Semester dem Studium des Sanskrit. Seine Doktorarbeit schrieb er auf linguistischem Gebiet. Seine Leistungen bei der Mitarbeit an der Revision des Deutschen Wörterbuches von Jakob und Wilhelm Grimm, dem umfangreichsten Wörterbuch der deutschen Sprache, sind bedeutend. Außerdem gab er eine Sammlung mittelalterlicher deutscher Lyrik heraus, betrieb intensive Kant-Studien und wandte sich dann der Interpretation von Literatur zu, besonders der von Dramen. Zu den von ihm veröffentlichten Arbeiten gehört sein magnum opus, die zweibändige Untersuchung der Stücke Heinrichs von Kleist, Arbeiten über einzelne Stücke von Sophokles, Gotthold Ephraim Lessing, Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Hebbel. Dass noch 17 Jahre nach seinem Tod seine wissenschaftlichen Aufsätze veröffentlicht wurden, beweist zweierlei: zuerst einmal die außerordentliche Breite seiner Interessen und Kenntnisse. Er schrieb Texte über Mystik, über den altindischen Dichter Kalidasa, über Hamlet, Martin Luther, Heinrich Heine, Henrik Ibsen, Leo Tolstoi, über finnische Literatur, Nietzsche und Tagore ebenso wie Texte über andere Themen und Personen der Literatur. Dann beweist es, dass Meyer-Benfeys Arbeit noch zwei Jahrzehnte nach seinem Tod für relevant gehalten wurde, was für das akademische Leben unserer Zeit ungewöhnlich ist.

 

Diese Einschätzung seiner Bedeutung läuft seiner eigenen Beurteilung zuwider. Heinrich Meyer-Benfey sah sich als glücklosen und unglücklichen Menschen. Die „sehr unbequeme Vielseitigkeit“ seiner Interessen erlaubte es ihm nicht, seine ganze Aufmerksamkeit auf nur einen Gegenstand zu lenken. Daraus ergab sich, dass er niemals eine Habilitationsschrift verfasste, also auch nicht Professor wurde. Zwar begann er schon 1901 an einer Universität zu lehren, aber er kam nicht über die Stellung eines Privatdozenten hinaus. In seiner autobiografischen Skizze erscheint er als gequälter Mensch, von seinen Forschungen vereinnahmt, unermüd-lich über seine Bücher gebeugt. Ein Mangel an Selbstvertrauen, persönliche Unsicherheit, verbunden mit rigoroser und kompromissloser Ehrlichkeit kennzeichnen ihn als ewigen „Verlierer“. Auch seine Bücher bereiteten ihm wegen der bitteren Erkenntnis, dass sie nicht die öffentliche Würdigung fanden, die sie ver-dienten, nur wenig Freude.

 

Sein ganzes Leben hindurch plagte ihn finanzielle Unsicherheit. Seine unaufhörlichen Bemühungen als Journalist und Verfasser wissenschaftlicher Schriften und die vielen Vorlesungen, die er vor verschiedenen Foren hielt, waren offensichtlich nicht dazu angetan, ihn von seinen Ängsten zu befreien. 1895 heiratete Heinrich Meyer Flora Benfey. Sie starb 1904. Am 5. Oktober 1906 heiratete er ein zweites Mal, nämlich Helene Franck. Heinrich Meyer-Benfey starb am 29. Dezember 1945 in Buxtehude.

 

Heinrich Meyer-Benfeys Arbeiten über Rabindranath Tagore

 

Heinrich Meyer-Benfey war der am besten informierte, nüchternste und urteilsfähigste Interpret Rabindranath Tagores in Deutschland. Zwar stahlen ihm andere, besonders Hermann Keyserling, die Schau, aber wenn man auf seine Leistungen als Tagore-Wissenschaftler zurückblickt, ist es durchaus nicht übertrieben zu sagen, dass er, sowohl was Quantität als auch was Qualität angeht, mehr als jeder andere tat. Schon 1921 veröffentlichte er ein akademisch ausgewogenes Buch über Tagore. Noch im selben Jahr gab er, zusammen mit seiner Frau, die achtbändigen Gesammelten Werke von Rabindranath Tagore heraus. Daneben schrieb er eine Flut von Aufsätzen und Zeitungsartikeln über Tagore, die sich auch weiter aus seiner Feder ergoss, als andere schon lange den seltsamen Namen des indischen Dichters vergessen hatten. Der Sammler seiner Aufsätze, ein früherer Student Meyer-Benfeys, merkte an, dass sein Professor Tagore in tieferer Liebe und Verehrung zugetan war als jeder andere, der über ihn geschrieben hatte.

 

Heinrich Meyer-Benfey war von denen, die sich entschlossen hatten, über Tagore zu schreiben, der Einzige, der eine gewisse Kenntnis der Indologie mitbrachte. Es stimmt, dass Helmuth von Glasenapp und Heinrich Zimmer, zwei bekannte Indologen, einige Aufsätze über Tagore veröffentlichten. Ihr Beitrag ist jedoch eher begrenzt. Für seine Studie Rabindranath Tagore machte Meyer-Benfey umfassenden Gebrauch von seinen indologischen Kenntnissen. Folglich ist es sehr viel genauer als die Bücher von Paul Cremer und von Emil Engelhardt, die einige Monate vor dem Buch Meyer-Benfeys herauskamen. Seine Hauptquelle für den biografischen ersten Teil sind Tagores Reminiscences, die damals noch nicht ins Deutsche übersetzt waren.

 

Was den interpretierenden Teil angeht, so stützte sich Meyer-Benfey auf alle Bücher, die bis 1921 auf Englisch erschienen waren. Er erwähnt zusätzlich die Hilfe zweier bengalischer Freunde, Satish Chandra Roy und Aurobindo Mohan Bose und ebenso die von Rathindranath Tagore, dem Sohn des Dichters. Besonders bemerkenswert ist sein nüchternes, sorgfältig abgewogenes Urteil, das im Gegensatz zu Keyserlings übertreibender Sprache und dem weitschweifigen Lob z. B. eines Emil Engelhardt steht. Die Anerkennung, die der österreichische Romancier Stefan Zweig in einem privaten Brief ausdrückte, trifft genau den richtigen Ton:

„Erst heute kann ich Ihnen recht für Ihr schönes und durchaus informatives Buch über Tagore danken. Es kommt zur rechten Zeit denn die etwas geräuschvolle Tätigkeit des Verlages, die Übertreibungen mancher Wichtigmacher, haben eine gewisse Gegenwehr (und nicht immer an den unedelsten Naturen) gegen Tagore erzeugt. [...] Ich habe sehr viel aus Ihrem Buch gelernt und bin Ihnen vor allem dankbar, dass Sie hier nicht jene neudeutschen Versuche, aus jedem Dichter eine neue Religion zu machen, in Ihr Werk hinüberwirken liessen, sondern im reinen Ebenmass und gesteigertem Zusammenhang das wesentliche nur hineinstellen und ihm überlassen für sich selbst zu reden.“

 

Nicht weniger als 23 Aufsätze hat Meyer-Benfey zwischen 1916 und 1941 über Tagore veröffentlicht; so viele habe ich jedenfalls zusammentragen können. Dazu kommen noch die Vor- und Nachworte, die Meyer-Benfey ge- legentlich über Tagore schrieb. Hinzu kommen weiterhin zahlreiche Aufsätze über Tagore, die Meyer-Benfey in seiner Liste der Veröffentlichungen erwähnt, von denen ich aber keine Exemplare bekommen konnte. Viele seiner Essays erschienen in Tageszeitungen in Hamburg, andere in kulturellen und wissenschaftlichen Zeitschriften. Die meisten davon versuchen einen Überblick über Tagores Werk und einen Einblick in seine Persönlichkeit zu geben. Nicht wenige davon sind Artikel, in denen der 60., 70. und 80. Geburtstag des Dichters gefeiert wird. Die anderen Texte sind stärker spezialisiert. Dazu gehören Besprechungen neuer Veröffentlich-ungen, Vergleiche von Tagore mit Mahatma Gandhi, eine Erörterung von Tagores Religion und eine wissen-schaftliche Schrift über Der König der dunklen Kammer, die zweimal nachgedruckt wurde.

 

Zu diesem Band

 

Die Herausgeber haben die Korrespondenz chronologisch geordnet. Die Daten werden in vielen Briefen nur unvollständig erwähnt: Entweder fehlt das Jahr oder, selten, das ganze Datum. Innere Folgerichtigkeit erlaubt uns jedoch die meisten Briefe genau zu datieren. Nur in wenigen Fällen bleiben die Daten von Briefen, die Helene Meyer-Franck schrieb, ungewiss. Die chronologische Ordnung gestattet uns, dem menschlichen Drama dieser Korrespondenz Schritt für Schritt zu folgen. Auch die vielen Lücken in der Korrespondenz werden uns dabei bewusst.

 

Alle Briefe von Helene Meyer-Franck und Heinrich Meyer-Benfey sind mit der Hand geschrieben. Wir haben zur leichteren Lesbarkeit alle Titel der Bücher in Kursivschrift hervorgehoben. Auch die meisten Briefe Rabindranaths und Rathindranaths sind mit der Hand geschrieben. Mit Schreibmaschine geschriebene Briefe werden gekennzeichnet.

 

Die Herausgeber haben das Material in drei Perioden eingeteilt. Die erste Periode bringt uns bis zur ersten Begegnung des Dichters mit dem Hamburger Ehepaar, die in Holland stattfand. Die zweite Periode handelt von den dramatischen Ereignissen im Jahr 1921, als Tagore seine berühmte Vortragsreise durch Deutschland unternahm und das Ehepaar in Hamburg und Berlin wiedersah. Dieser Begegnung folgten lange Über-legungen über die Pläne des Ehepaares, sich in Santiniketan niederzulassen. Davon handelt die Korres-pondenz bis Ende 1922. Diese Kapitel ist der reichste und längste Teil dieser Korrespondenz. Die dritte Periode reicht bis zum Ende der Korrespondenz im Jahr 1938. Hier werden die Briefe seltener und werden von der Inflation in Deutschland und dem Heraufkommen des Naziregimes überschattet. Neue Übersetzungen von Tagores Werken wurden seltener und hörten schließlich ganz auf.

 

Zur deutschen Ausgabe

 

Einen großen Dank verdient die Übersetzerin Ingrid von Heiseler für ihre sorgfältige und einfühlsame Arbeit. Die Übersetzung wurde erschwert durch den Umstand, dass Heinrich Meyer-Benfey, der ein recht unbeholfe- nes Englisch schrieb, in seine Muttersprache übersetzt werden musste, die er glänzend beherrschte. Es galt, seine deutsche Prosa nachzuahmen, während auch der elegante Stil von Helene Meyer-Franck und das ein wenig weitläufige Englisch Tagores in der deutschen Sprache erhalten bleiben sollte. Frau von Heiseler hat auch an den Anmerkungen mitgearbeitet.

 

Ich bedanke mich auch besonders herzlich bei Christian Weiß, dem Verleger des Draupadi Verlags; seine Initiative und sein beharrliches Engagement machten diesen Band möglich.

 

Für deutsche Leser habe ich die Einführungen und die Anmerkungen der 1. englischen Auflage von 1999 korrigiert, aktualisiert und für den deutschsprachigen Leser bearbeitet. Die 2. Auflage der Originalausgabe er- schien mit denselben Korrekturen und Aktualisierungen im Jahr 2010 in Kalkutta.

 

Mein Mitherausgeber, Prof. Prasanta Kumar Paul, ist am 26. November 2007 nach langer Krankheit in Santiniketan gestorben. Sein Wirken galt der Erforschung des Lebens von Rabindranath Tagore. Er war mein hochgeschätzter Lehrer. Ihm widme ich diese deutsche Ausgabe.

 

Martin Kämpchen, 1. August 2010 


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