Der Ladies Special ist ein Nahverkehrszug ausschließlich für Frauen. Das Buch zeigt, in welchem Kontext Zugfreundschaften entstehen und welche Bedeutung diese Freundschaftsform für die Frauen aus dem
Ladies Special hat.
Einleitung
Die Luft ist heiß und stickig. Hinter dem vergitterten Zugfenster zieht schemenhaft die Landschaft vorüber. Ein Tempeldach leuchtet weiß im ersten Morgenlicht. Obst- und Gemüsefelder wechseln sich ab mit schwarzen, stinkenden Seen und den Slums entlang der Bahngleise. Schulter an Schulter drängen sich Frauen im Gang und stehen zwischen den Sitzreihen – klassische Business-Kostüme und moderne Hose- oder Rock- Kombinationen mit Bluse oder T-Shirt mischen sich bunt mit traditionellen sāṛī und pañjābī. Wer Glück hat, ergattert einen der wenigen begehrten Sitzplätze. Ludwina und Priscilla schlüpfen zwischen den Stehenden hindurch zu ihren train friends. Lachend lassen sie sich auf den Schoß zweier Zugfreundinnen fallen. Es ist Valentinstag. Die Frauen reichen sich zur Begrüßung die Hand und wünschen sich gegenseitig ein „Happy Valentine“. Einige Frauen haben Süßigkeiten und herzhafte Snacks mitgebracht. Shevaun schenkt ihren train friends selbst gemachte rote Herzen aus Marzipan, die sie mit buntem Zucker verziert hat. Ausgelassen scherzen die Frauen miteinander. Sie singen gemeinsam Bollywood-Lieder und englischsprachige Pop-Klassiker (Mumbai, Indien: 7.39-Uhr-Ladies- Special-Zug von Virar nach Churchgate, Waggon Nr. 12, 14. Februar 2004).
2010, 236 Seiten, 24,00 Euro, ISBN 978-3-937603-47-6
Die beschriebene Szene spielt während einer Zugfeier im Ladies Special in Mumbai, einem nur für Frauen zugänglichen indischen Nahverkehrszug. Ludwina, Priscilla und Shevaun sind berufstätige Pendlerinnen. Sie bezeichnen sich selbst als train friends und bilden mit neun weiteren Frauen eine Freundschaftsgruppe. Die Frauen treffen sich täglich im Ladies Special und verbringen gemeinsam ihre Fahrzeit, die bis zu eineinhalb Stunden dauert.
Zugfreundschaften zwischen Frauen im Ladies Special lassen sich nur vor dem Hintergrund des Urbanen, der großen Distanzen zwischen Wohn- und Arbeitsort verstehen. Die Metropolregion Mumbai hat heute
schätzungsweise 21 Millionen Einwohner. Sie wächst rasant, und eine genaue Einwohnerzahl ist durch die vielen, vor allem in den Slums und auf der Straße lebenden Menschen nur schwer zu benennen. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wird Mumbai im Jahre 2015 mit 26,3 Millionen Menschen die zweitgrößte Stadt der Welt sein, in ihrer Einwohnerzahl nur noch von Tokio übertroffen. Mumbai, die Hauptstadt des Bundesstaates Maharashtra, ist die größte Stadt Indiens und zugleich kommerzielles Zentrum des Landes mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen. Die Menschen kommen in die Metropole, um Geld zu verdienen. Der Wohnraum in Mumbai ist jedoch begrenzt, die Mieten in der Innenstadt und den bevorzugten Stadtteilen der Elite sind horrend. In den Vororten, die durch die beiden Bahnlinien der Western und der Central Railway Company mit dem Stadtzentrum verbunden sind, haben zahlreiche Familien aus der Mittelschicht bezahlbaren Wohnraum gefunden. Für ihre Erwerbstätigkeit nehmen viele dieser Frauen und Männer täglich eine drei- bis vierstündige Fahrt in überfüllten Nahverkehrszügen auf sich. Mumbais Nahverkehrszüge transportieren jeden Tag etwa sechs Millionen Menschen. Ein Viertel davon sind Frauen, und ihre Zahl steigt stetig. Während der Hauptverkehrszeiten sind die Züge so überfüllt, dass die Passagiere dicht aneinander-gedrängt im Abteil stehen müssen.
Neben den großen Distanzen zwischen Wohn- und Arbeitsort müssen die Zugfreundschaften der Frauen im Ladies Special auch vor dem Hintergrund der Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit in der indischen Mittelschicht seit Ende der 1980er-Jahre gesehen werden. Traditionell waren und sind Freundschaften dieser Frauen eher auf die häusliche Sphäre beschränkt. Hausfrauen pflegen Freundschaften vor allem zu weiblichen Familienangehörigen und Nachbarinnen. Berufstätige Pendlerinnen hingegen halten sich die meiste Zeit am Tag außer Haus auf. Die Frauen kommen in Kontakt mit Menschen, denen sie sonst nicht begegnet wären, und haben mehr soziale Kontakte und Freundschaften außerhalb der eigenen Verwandtschaftsgruppe und Nachbarschaft als nicht erwerbstätige Frauen. Das urbane Umfeld und die Notwendigkeit, weite Strecken für den Beruf zurückzulegen, tragen dazu bei, dass sich neue soziale Beziehungen wie Zugfreundschaften entwickeln können.
Zum ersten Mal „begegneten“ mir die Frauen aus dem Ladies Special in einem ICE der Deutschen Bundesbahn. Beim Blättern in der DB Mobil, der Kundenzeitschrift der Bahn, stieß ich auf einen Artikel von Dorothee Wenner (2001) über den Ladies Special. Der Bericht fesselte mich, und es entstand spontan die Idee, über diesen Zug und seine Reisenden zu promovieren. Zu Beginn meiner Forschungen stand die Frage nach den Möglichkeiten, die ein solcher Zug Frauen in Indien bietet. Wie verbringen Pendlerinnen ihre Zeit in diesem nur für sie eingerichteten Raum fern der Kontrolle ihres häuslichen Umfeldes? Inwiefern verändert sich dadurch das Selbstverständnis dieser Frauen? Ausgehend von den allgemeinen Verhaltensweisen der Pendlerinnen, ihren Tätigkeiten, Vorlieben, Ängsten und Kommunikationsformen gelangte ich zu der Frage nach dem Bedeutungsinhalt der von den Frauen verwendeten Bezeichnung train f r i e n d . Ziel dieser Arbeit ist es, ein umfassendes Bild dieser Freundschaftsform zu zeichnen, sie in ihren unterschiedlichen Aspekten darzustellen und den Inhalt dieser sozialen Beziehung zu erarbeiten. Unterschiedliche Ebenen der Betrachtung sind dabei aufschlussreich. Auf der Handlungsebene untersuche ich die Aktivitäten der t r a i n f r i e n d s . Wie verbringen sie ihre gemeinsame Fahrt? Welche Gesprächsthemen und Kommunikationsformen sind typisch in Zugfreundschaften? Auf der kognitiven Ebene stellt sich die Frage nach der Bedeutung, die die Frauen ihren Zugfreundschaften beimessen. Was verbinden die Pendlerinnen mit ihren train friends, und welche Erwartungen stellen sie an ihre Zugfreundinnen? Die Antwort auf die letzte Frage ist eng verknüpft mit den Bedürfnissen, die durch diese Form der Freundschaft befriedigt werden. Auf der sozialen Ebene gehe ich der Frage nach, welchen Stellenwert Zugfreundschaften im Leben der Pendlerinnen einnehmen und wie diese Freundschaftsform im Vergleich zu anderen Formen der Freundschaft oder sozialen Beziehungen wie der Familie bewertet werden kann. Außerdem untersuche ich die Zusammensetzung der Freundschaftsgruppen nach sozialen Merkmalen wie Alter, Religion oder Kaste, Muttersprache und Schicht.
Über den Ladies Special wurden bisher keine wissenschaftlichen Arbeiten veröffentlicht. Das indische Bahnsystem wurde vor allem aus historischer und kolonialhistorischer Perspektive beschrieben (u. a. Kerr 2001, Mehrotra/Dwivedi 2000, Zingel 1995) sowie unter Gesichtspunkten der städtischen Entwicklung und Verkehrsplanung analysiert (u. a. Banerjee- Guha 1996, Haack 2003, v. Hauff/Michaelis 2001, Nissel 1977). Die Institution des Ladies Special, die Motivation der Western Railway zur Einrichtung eines solchen Services und die Bedeutung, die dieser Zug für weibliche Reisende hat, findet kaum Beachtung. Selbst in einer Publikation (Mehrotra/Dwivedi 2000), die die Geschichte der Western Railway zwischen 1899 und 1999 in Mumbai (Bombay) zum Thema hat, wird der Ladies Special nur beiläufig erwähnt und lediglich als Stichwort in der Chronologie des Anhangs aufgeführt. Auch andere Wissenschaftler haben sich bisher nicht der für berufstätige Frauen so wichtigen Einführung des Ladies Special gewidmet oder die allgemeine Situation von Pendlern in Indien, ihre Verhaltensstrategien in überfüllten Zügen und ihre sozialen Beziehungen thematisiert. Wenn man bedenkt, dass der Bereich des Verkehrs, dem sich öffentliche Verkehrsmittel zuordnen lassen, für Hannerz (1980:102ff) zu den bedeutendsten Charakteristika des Städtischen gehört, ist es umso erstaunlicher, dass Reisende in öffentlichen Verkehrsmitteln bisher kaum Gegenstand kultur- oder sozialwissenschaftlicher Betrachtungen waren (Lang 1994:14).
In der indischen und deutschen Presse sind einige journalistische Beiträge über den Ladies Special er-schienen. Zwei Dokumentarfilme berichten über das rege Treiben im Zug und stellen dabei auch Freundschaftsgruppen vor. Wissenschaftlich wurden Freundschaften zwischen Frauen in Indien bislang kaum untersucht. Dies könnte unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass Frauen öffentlich weniger mit Freundinnen in Erscheinung treten als Männer. Außerdem haben Ethnologen lange Zeit ihr wissenschaftliches Interesse vor allem auf Verwandtschaftsbeziehungen gerichtet und andere soziale Beziehungen wie Freundschaften gar nicht oder nur am Rande betrachtet. Für eine umfassende Theoriebildung und breit gefächerte kulturvergleichende Studien fehlen daher Vergleichsdaten.
Faktoren wie Geschlecht, Alter, sozialer Status, aber auch der Ort, an dem Freundschaft praktiziert wird, beeinflussen die Wahrnehmung dieser Sozialbeziehung (Rezende 1996:246, Beer 1998:195). Da die Bandbreite dessen, was unter Freundschaft verstanden wird, bereits innerhalb einer Kultur sehr groß ist, werden Verallgemeinerungen dem Thema nicht gerecht. Ziel meiner Arbeit ist es daher, ausschließlich die für die Frauen aus dem Ladies Special gültigen Freundschaftsformen mit besonderem Fokus auf die Zugfreundschaft herauszuarbeiten. Die Arbeit leistet einen Beitrag zum Verständnis von Freundschaftsbeziehungen zwischen indischen Frauen im urbanen Kontext. Sie liefert damit Daten für einen noch unerforschten Teil indischer Alltagskultur und das Studium von Freundschaft in der Ethnologie.
Die Arbeit gliedert sich in sechs Kapitel. Im ersten Kapitel werden die Forschungsorte als Kontext, in dem Zugfreundschaften praktiziert werden, vorgestellt. Zum Kontext rechne ich im weiteren Sinn auch den Schienennahverkehr in Mumbai, da die Situation, in der sich die Berufspendlerinnen befinden, in unmittelbarem Zusammenhang mit den Pendlerströmen und den eingesetzten Nahverkehrszügen steht. Auch die Institution von Frauenabteilen und Ladies-Special-Zügen ist für ein Verständnis von Zugfreundschaften unverzichtbar, da sie Teil der äußeren Rahmenbedingungen sind, die sich konkret auf diese Form der Freundschaft auswirken. Nach der Beschreibung des räumlichen Umfeldes – der Forschungsorte – erläutere ich die Methoden der Datenerhebung und grenze die Zielgruppe dieser Arbeit ein. Dabei stelle ich die hohe Arbeitsbelastung meiner Interaktionspartnerinnen und ihre Pendelerfahrung in den Mittelpunkt der Betrachtung. Es sind vor allem diese Faktoren, die das Freundschaftsleben der Berufspendlerinnen nachhaltig beeinflussen. Ferner beschäftige ich mich mit Strategien, die Reisende entwickelt haben, um mit der Situation der überfüllten Züge zurechtzukommen, und zeige, inwiefern train friends bei den täglichen Anforderungen im Pendelverkehr nützlich sein können. Das zweite Kapitel behandelt den gegenwärtigen theoretischen Forschungsstand zum Thema Freundschaft. Es werden Merkmale diskutiert, die in der Freundschaftsforschung als essenziell für Freundschaften angenommen werden. Diese dienen als Rahmen, um zu überprüfen, ob die
genannten Elemente auch für Zugfreundschaften relevant sind. Außerdem werden indische Besonderheiten erörtert und die dieser Arbeit zugrunde liegende Rahmendefinition von Freundschaft entwickelt. Das dritte Kapitel befasst sich mit einzelnen Freundschaftsformen der Pendlerinnen. Dabei stehen unterschiedliche Bezeichnungen für Freundschaften, die die Frauen in ihrem Alltag verwenden, und die Bedeutung verschiedenartiger Freundschaftsformen innerhalb des Lebenslaufs im Mittelpunkt der Untersuchung. Außerdem gehe ich der Frage nach, ob und wie soziokulturelle Faktoren wie Alter, Herkunft und Religion die Bildung von Freundschaften meiner Interaktionspartnerinnen beeinflussen und wie sich die genannten Faktoren auf die Zusammensetzung der Freundschaftsgruppen im Ladies Special auswirken. Das vierte Kapitel befasst sich exemplarisch mit Aktivitäten von Pendlerinnen im Ladies Special. Es wird dargestellt, wie Zugfreundschaften geschlossen und gelöst werden. Dann gehe ich auf wiederkehrende Tätigkeiten und Gesprächsthemen in vier unterschiedlichen Freundschaftsgruppen ein. Das Kapitel beschreibt sowohl Alltagssituationen als auch besondere Anlässe, die im Ladies Special gefeiert werden, und geht abschließend auf Aktivitäten von Freundschaftsgruppen außerhalb des Zuges ein. Im fünften Kapitel wird die Essenz dessen, was als Zugfreundschaft bezeichnet werden kann, in der Auseinandersetzung mit den vorangegangenen Kapiteln erarbeitet. Im abschließenden sechsten Kapitel fasse ich die Ergebnisse zusammen und hinterfrage den im zweiten Kapitel dargestellten theoretischen Forschungsstand auf seine Tragfähigkeit. Außerdem gebe ich einen Ausblick auf offene Forschungsfragen. Abschließend gehe ich auf gesellschaftliche Wandlungs-prozesse ein, von denen die Frauen der urbanen indischen Mittelschicht beeinflusst werden. Es geht dabei vor allem um Individualisierungsprozesse und die Rolle, die in diesem Zusammenhang Frauenräume – wie die Ladies-Special-Züge – und die dort praktizierten Freundschaften spielen können. Damit schließt sich der Kreis zu der eingangs gestellten Frage nach möglichen Veränderungen des Selbstverständnisses meiner Interaktionspartnerinnen durch ihre im Kontext des Ladies Special praktizierten Zugfreundschaften.
Ich verwende die Bezeichnung Mumbai. Nicht aus politischen Gründen, sondern weil es sich heute um den offiziellen Namen handelt. Die Metropole wurde 1995 von der hindunationalistischen BJP-Shiv-Sena- Regierung von Bombay in Mumbai umbenannt. Durch die Änderung des Namens sollte ein Schlussstrich unter das koloniale Erbe der Stadt gezogen werden. Der Name war zuvor schon in den Sprachen Marathi und Gujarati
bekannt, während in Hindi und Urdu die Stadt als „Bambai“ bezeichnet wurde. Sujata Patel (2005:4) verweist darauf, dass die Änderung des Namens von vielen als chauvinistische Handlung gegen die multi-ethnische, multilinguale, kosmopolitische Metropole verstanden wurde (siehe auch Subramaniam 2002 und Eckert 2006). Seit der Namensänderung, die auch Bahnhöfe, den Flughafen und viele Straßen betraf, verspüren viele Bewohner eine Atmosphäre, in der die Offenheit gegenüber Nicht-Marathen abgenommen hat. Die Namensänderung ist allerdings nur ein äußerliches Anzeichen für die Veränderung des politischen Klimas seit Bestehen der hindunationalistischen Regierung. Im Alltagsgebrauch verwenden die Frauen und Familienangehörigen meiner Zielgruppe sowohl die Bezeichnung Bombay als auch Mumbai.
Aus Rücksicht auf die Identität der Pendlerinnen habe ich die Namen meiner Interaktionspartnerinnen geändert. Emische Freundschaftsbezeichnungen sind im Text gesperrt dargestellt. Kursiv gedruckte Wörter sind im Glossar (Anhang IV) aufgeführt. Auch die unterschiedlichen Freundschaftsgruppen sind tabellarisch im Anhang aufgelistet.
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