Aus dem Vorwort von Michael Mann
Gegenwärtig dienen die historischen Repräsentationen und vorneweg die akademische wie nicht-akademische Geschichtsschreibung in der Indischen Union als ein Werkzeug zur Verwirklichung und Vollendung der indischen Nation. Es soll Beleg für den Weg des Landes und seiner Leute in die Moderne sein. In Pakistan dient die Historiografie allein der muslimischen Geschichte auf dem indischen Subkontinent sowie dem Nachweis, dass seine muslimische Bevölkerung hier eine nationale Heimstätte gefunden hat. Inzwischen versteht sich das Land als der östliche Außenposten eines ge-schlossenen islamischen Kulturraumes, der von Nordafrika bis Nordindien reicht, dessen historisch gewachsene Identität und nationalen Zusammenhalt es zu wahren gilt. Auf Sri Lanka gerieren sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Sinhala als einzig historisch legitimierte Akteure, die sich in der über 2000jährigen Tradition buddhistischer Kultur und singhalesischer Herrschaft sehen, deren Fortbestand es im Rahmen eines die ganze Insel umfassenden Nationalstaates als politischer Ausdruck von Moderne zu sichern gilt.
Für nahezu alle Staaten in Südasien ist der Begriff der Moderne zunächst und grundsätzlich am europäisch-westlichen Diskurs ausgerichtet. Doch seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert findet eine Neuausrichtung statt, die die Moderne einerseits als nationalistisch- religiöse Re-Orientierung begreift, andererseits diese nationalen Identitäten zu Gunsten globaler Strategien und Vernetzungen aufgegeben werden, weil dies von einer kleinen aber wachsenden Gesellschaftsgruppe, die dem oberen Mittelstand
und der Elite angehört, als zeitgemäß weil
2009, 366 Seiten, 24,80 Euro, ISBN 978-3-937603-34-6
zukunftsorientiert erachtet wird. Demnach erscheint zurzeit in fast allen Staaten Südasiens die
Moderne janusköpfig, reformerisch im Sinne einer angemessen empfundenen moralisch-kulturellen Rückbesinnung, und reformierend im Sinne eines gesellschaftspolitischen Anpassungsprozesses, an- getrieben von der Adaption wissenschaftlicher und technischer Errungenschaften. Bei Licht betrachtet scheint das aber ein universelles Phänomen der Moderne zu sein.
Rezension
Michael Gottlob
Der rasante Wandel der indischen und südasiatischen Gesellschaften ist seit geraumer Zeit unübersehbar. Doch ist das Interesse daran, wie die betroffenen Menschen diese Erfahrung mental verarbeiten und wie die dabei entstehenden Begriffe, Schlagworte, Bilder, Mythen usw. in das politische Handeln eingehen, außerhalb Südasiens gering geblieben. Ein bemerkenswertes Manko im viel beschworenen interkulturellen Dialog!
Das umfangreiche und vielfältige Material, das Michael Mann in seinem Band vorstellt, ist geeignet, dies zu ändern. In fünf Etappen rekonstruiert er die „indische Geschichtsschreibung“ unter dem Einfluss des europäischen Geschichtsdiskurses (ca. 1780-1850), die „Nationalisierung der südasiatischen Historiografie“ (1860-1914), die „Formierung der nationalen, regional(istisch)en und partikularistischen historischen Repräsentationen“ (1919-1947), zudem „neue national-historische Repräsentationen“ nach 1947 und die „vielen Geschichten“ der südasiatischen Nationen nach 1977, ehe er sich im Schlusskapitel der „medialisierten Geschichte“ im „Aufbruch zur globalen Nationalgeschichte“ widmet.
Es geht nicht nur um die professionelle, forschungsgestützte Geschichtsschreibung und Archäologie, wie sie sich nach dem Vorbild der europäischen Disziplinen im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt haben. Auch die außerakademische Beschäftigung mit Geschichte in Literatur und Kunst, der Ausdruck von historischem Selbstbewusstsein in der Architektur, in Denkmälern und Ritualen werden berücksichtigt. Ebenso die Darstellungen der Geschichte in Film und Cyberspace, die sich großer Beliebtheit erfreuen und die in vielen Teilen der Welt verstreute südasiatische Diaspora erreichen. Alles wird bis in die je eigenen Entwicklungen der verschiedenen Staaten Südasiens verfolgt: außer in Indien also auch in Sri Lanka, Nepal, Afghanistan und, nach 1947 bzw. 1971, in Pakistan und Bangladesch. Selbst regionalistische Bewegungen und ihre historischen Selbstverortungen (Orissa, Sind) kommen exemplarisch in den Blick.
Neben den zentralen Themen und Fragestellungen der historischen Repräsentationen wird der politische Kontext, aus dem heraus und auf den hin die Vergangenheit erzählt, erklärt und gedeutet wird, stets ausführlich mitreferiert. Wie eng Politik und Vergangenheitssicht zusammenhängen, ist etwa am Beispiel der folgenreichen Idee eines 'Homeland' oder eigenen Staates für die südasiatischen Muslime greifbar. Diente in der Phase der akuten Orientierungslosigkeit der Muslime nach dem Ende der Khilafatbewegung die Erinnerung an frühere Zeiten der Erkundung von Zukunftsoptionen, so wurde seit der definitiven Entscheidung für Pakistan die Geschichte zunehmend im Sinn der Zwei-Nationen-Theorie dargestellt (S. 139ff.). Instruktiv für den politischen Gebrauch der Vergangenheit sind auch die Abschnitte über die Etablierung der Geschichte als Schulfach im kolonialen Indien (S. 91-104) und die späteren Kontroversen über den Inhalt der Lehrbücher, als die regierende Indische Volkspartei (BJP) versuchte, mithilfe des staatlichen Schulunterrichts ihre Vorstellung von Indien als Hindunation durchzusetzen (S. 243-268).
Unter den Entwicklungen nach dem Ende der Kolonialherrschaft waren es besonders die von Ranajit Guha Anfang der 1980er-Jahre initiierten Subaltern Studies, die mit ihrer Kritik an der „Elite-Historie“ neue Wege für das Verständnis der indischen Geschichte gewiesen haben. Mehr als frühere Ansätze haben sie auch Aufmerksamkeit im Westen erregt, wo sie manchmal für die heutige indische Geschichtsschreibung insgesamt genommen werden. Dabei ist es erstaunlich, wie schnell manche Anhänger der postkolonialen Theorie, die die moderne Geschichtswissenschaft in Südasien wegen ihrer westlichen Genese unter Kolonialismusverdacht stellen, bereit sind, die ihrerseits hauptsächlich an anglo-amerikanischen Universitäten entstandenen und stark in westlichen Diskursen (history from below, Annales-Schule) verankerten Subaltern Studies als authentisch indisch zu akzeptieren, ohne sich auf andere Denkschulen und Schreibweisen in Südasien näher einzulassen.
Die Bedeutung der Subaltern Studies liegt vielleicht gerade in den von ihnen ausgelösten Kontroversen und Grundsatzdebatten, von denen Michael Mann einige erwähnt. Einigen Kritikern bleibt Guha mit seiner Definition der Subalternen (Volk minus Elite) zu nah an essentialistischen Vorstellungen des Handlungssubjekts, anderen driften die Studien im Lauf der Entwicklung zu sehr von der Annahme eines Subjekts überhaupt ab. Wiederum andere bemängeln, dass sie den Erfahrungen von Frauen, Dalits und Adivasis wenig Raum (und wenn, dann erst spät) zugestanden haben. Nach Kancha Ilaiah (der wie die gesamte Dalithistorie bei Mann unerwähnt bleibt) hat sich an der Diskriminierung der Kastenlosen in der indischen Geschichtsschreibung auch mit den Subaltern Studies nichts geändert. (Kancha Ilaiah, „Productive Labour, Consciousness, and History: The Dalitbahujan Alternative“, in: Subaltern Studies IX, 1996, S. 165-200, hier S. 169)
Das Selbstverständnis der Nation, um das es in den Subaltern Studies nach ihrer Programmatik gehen sollte, wird nicht allein durch den Verweis auf das Fragmentarische (G. Pandey, P. Chatterjee) demokratischer und pluralistischer. In den Debatten über die indischen Schulbücher, als die säkularen Werte der Verfassung unter Beschuss standen, fielen die Subalternen-Historiker durch weitgehende Abwesenheit auf. Dabei wären angesichts der Präsenz historischer Themen im öffentlichen Diskurs konkretere Bezugnahmen der Forschung auf praktische Fragen durchaus wünschenswert.
Der Band ist gedacht als Beginn einer Reihe zur Geschichte der historischen Repräsentationen in den großen Weltregionen. Zugleich wird für ihn der Anspruch auf eine „explizit südasiatische Historiografiegeschichte“ erhoben, die den herkömmlichen „bürgerlich-liberalen“ Diskurs der Kolonialtradition überwindet und auch „vom Paradigma der Nationalgeschichte als Referenzpunkt von Geschichtsschreibung“ (S. 22) abrückt. Worin jedoch die neue südasiatische Perspektive bestehen soll, wird nicht recht deutlich. Ein Nebeneinander der Forschungs- und Darstellungstraditionen in den einzelnen Ländern des Subkontinents ist jedenfalls noch keine transnationale Historiografiegeschichte. Dazu bedarf es weiter gespannter, über bestehende Grenzen hinausreichender Deutungshorizonte. Ansätze dazu gibt es durchaus, etwa im Bereich der Ökohistorie, der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, der Genderhistorie, der Geschichte indigener Völker etc. In der politischen Geschichte werden sie bisher vermisst. Warum sonst ließe sie sich so leicht den vielen sezessionistischen Tendenzen in Südasien dienstbar machen, statt das Interesse an Zusammenarbeit und Integration zu befördern?
Es geht aber vielleicht auch weniger um nationale als um kulturelle Grenzen, und nicht nur um solche innerhalb Südasiens, sondern auch um die zwischen Ost und West und damit um die Langzeitwirkungen des Kolonialismus, die sich in die Formen des historischen Denkens tief eingegraben haben. Das Bemühen um die (Wieder)Entdeckung südasiatischer Quellen und Traditionen für die lange vom Westen dominierte Historiografiegeschichte ist indes nicht eigentlich neu. Die von Mann (S. 22) genannten Arbeiten von Ranajit Guha und Sumit Sarkar haben sicher zahlreiche Autoren und Texte für eine selbstbewusste Rekonstruktion des indischen Umgangs mit dem zeitlichen Wandel unter dem Kolonialismus erschlossen. Doch auch schon Romila Thapar und andere haben die itihasa-purana-Tradition gegenüber dem Monopolanspruch und Ethnozentrismus der westlichen Historie zur Geltung gebracht, ohne die Erkenntnismöglichkeiten der modernen Forschungsmethoden zu verleugnen. Vinay Lal dagegen sucht gar keine transnationale oder transkulturelle Historiografie, sondern setzt die traditionellen indischen Formen der Erinnerung dem in seinen Augen verhängnisvollen westlichen Begriff der Geschichte strikt entgegen - auch wenn er sich seltsamerweise in Form einer History of History darüber klar zu werden sucht. Dies bestätigt, wie viel Bedarf an gegenseitiger Erkundung im Bereich der Erinnerungs- und Geschichtskulturen noch besteht.
Für eine transkulturelle Historiografiegeschichte kommt es darauf an, weiter gegen die von Dipesh Chakrabarty diagnostizierte „asymmetrische Ignoranz“ anzuarbeiten, die den Austausch historischer Erfahrung bisher nur auf der Basis der westlichen Universalgeschichte erlaubte. Historiografiegeschichte muss dazu insgesamt, das heißt auf allen Seiten als verknüpfte oder „entangled history“ begriffen werden, so dass auch die modernen westlichen Konzepte in ihrer Prägung durch die Kolonialerfahrung erkennbar werden. Dann lassen sich außereuropäische Geschichtsdeutungen leichter über kulturelle Grenzen hinweg vermitteln. Michael Mann hat dazu einen wichtigen Beitrag und Anregungen für weitere Studien geliefert.
H-Soz-Kult, 2.2.2010
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