Utsa Patnaik

Hunger und Armut

Unbequeme Wahrheiten in Indien

Aus dem Englischen von Annemarie Hafner

Die Ökonomieprofessorin Utsa Patnaik analysiert, warum trotz hoher Wachstumsraten die Armut in Indien

nicht geringer wird.

„Als der Westen die Entwicklungsländer aufforderte, sich für den Freihandel zu öffnen und ihr Land den internationalen Märkten zur Verfügung zu stellen, habe ich davor gewarnt, dass in der Folge wieder Symptome auftreten werden wie in der Kolonialzeit. Die Öffnung des Agrarmarktes wird dazu führen, dass die weltweite Nachfrage unser Agrarmodell verändern wird, weg vom Anbau für den lokalen Verbrauch hin zu Exportprodukten. Aber die Ackerflächen, die zur Verfügung stehen, sind begrenzt. Wenn also mehr und mehr fruchtbares Land dafür abgezweigt wird, kommt der Nahrungsmittelanbau für die ansässige Bevölkerung zu kurz."   Utsa Patnaik

2009, 240 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 978-3-937603-37-7


Schattenseiten der Globalisierung

 

Von Gerhard Klas

 

Die indische Wissenschaftlerin Utsa Patnaik prognostiziert wachsende soziale Spannungen, die sich explosionsartig entladen könnten. Ihr Buch ist ein wichtiges Korrektiv einer verengten und oberflächlichen Sichtweise, die Indien eine goldene Zukunft voraussagt und dabei ausschließlich die Mittel- und Oberschicht Indiens im Blick hat.

 

„Die allgemeine Auffassung, dass vom Wirtschaftswachstum für alle etwas abfällt, ist falsch. Das Gegenteil ist der Fall, betrachtet man das Wachstum, das nach der Einführung der neoliberalen Reformen und der Handelsliberalisierung eingesetzt hat, so wie vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank gefordert. Durchgesetzt wurden die Reformen von unserem heutigen Premierminister Manmohan Singh, der 1991 Finanzminister war. Ohne dass er das Parlament auch nur gefragt hätte, ohne jede Debatte, ersetzte er die auf staatlicher Planung basierende Wirtschaftspolitik.“

 

Utsa Patnaik, Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Jawaharlal Nehru Universität in Neu Delhi, kritisiert seit vielen Jahren die Wirtschaftsreformen, die eine Minderheit der Inder reicher gemacht haben. Schätzungen schwanken zwischen immerhin 80 und 200 Millionen, denen jedoch Hunderte Millionen Bewohner des Subkontinents entgegen stehen, die abends hungrig zu Bett gehen.

 

Um trotzdem den Erfolg dieser neuen Politik in Indien zu belegen, seien die Zahlen über Armut und Hunger in Indien von staatlichen Stellen beschönigt worden. Anhand zahlreicher Statistiken und Fakten weist Utsa Patnaik in ihrem Buch nach, dass Hunger und Armut in Indien seit den Reformen von 1991 nicht ab-, sondern sogar zugenommen haben – entgegen öffentlicher Verlautbarungen. Utsa Patnaik kritisiert die offizielle Version der Preisentwicklung, deren Grundlage immer noch die Verhältnisse des Jahres 1973 sind. In ihrem Buch führt sie die Absurdität dieser Berechnung aus und konfrontiert sie mit der Realität:

 

„Löhne, die einmal in Sachleistungen wie Getreide oder Mahlzeiten abgegolten und früher zu niedrigeren Preisen ab Hof gewertet wurden, werden nun in Bargeld ausgezahlt, das der Arbeiter für Nahrungsmittel zu höheren Einzelhandelspreisen eintauschen muss. Ressourcen des Gemeineigentums sind in den letzten drei Jahrzehnten verschwunden. Feuerholz und Futter, früher gesammelt, müssen jetzt gekauft werden. Dann müssen wir höhere Kosten für medizinische Versorgung, Transport und Bildung hinzufügen, weil staatliche Gelder in diesen Bereichen reduziert und einige Dienstleistungen privatisiert wurden. Alles läuft darauf hinaus, dass Unterernährung und Armut sehr weit verbreitet sind und sich jetzt auf drei Viertel der ländlichen Bevölkerung auswirken.“

 

Indiens Arbeitsmarkt ist typisch für sogenannte Entwicklungsländer: 92 Prozent der Inder arbeiten im informellen Sektor, das heißt ohne Alters-, Unfall- oder Krankenversicherung. Indien ist nach wie vor eine Agrargesellschaft. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt von der Landwirtschaft. Utsa Patnaik erläutert die Folgen der Wirtschaftsreformen und deren Exportorientierung am Beispiel des Baumwollsektors.

 

„Unsere Bauern sind sehr hohen Preisschwankungen ausgesetzt. Seit Ende der 90er-Jahre haben sich allein im Baumwollsektor Tausende von Bauern das Leben genommen. 1991 hatte das Handelsministerium die Exportbeschränkungen aufgehoben. Zu dieser Zeit war der Preis für Baumwolle auf dem Weltmarkt sehr hoch. Innerhalb eines Jahres verzehnfachte sich der Export von Rohbaumwolle auf 374.000 Tonnen jährlich. Dann fielen die Preise ab 1995 bis 2001 um mehr als die Hälfte. Und unsere Bauern hatten größtenteils Kredite aufgenommen und die Anbaufläche für Baumwolle erweitert. Aber durch den Preisverfall konnte sie die Schulden nicht zurückbezahlen und die Geldverleiher nahmen jährliche Zinssätze von 35 bis 100 Prozent. Die Bauern mussten ihnen schließlich ihr Land überschreiben, das sie als Sicherheit für die Kredite eingebracht hatten. In dieser hoffnungslosen Situation, bei jährlich fallenden Baumwollpreisen, brachten sich die Bauern um.“

 

Utsa Patnaik hat Ende der 60er-Jahre in Cambridge und Oxford bei keynesianischen und marxistischen Wissenschaftlern wie Joan Robinson und Eric Hobsbawm studiert. Als Mittel gegen die sozialen Verwerfungen des neoliberalen Wirtschaftens empfiehlt sie Investitionen und Handelsbeschränkungen zugunsten des Binnenmarktes und der Landwirtschaft, um damit vor allem den Kleinbauern zu helfen, von denen die meisten weniger als einen Hektar Land bewirtschaften. Die heutige Weltagrarpolitik erinnert Utsa Patnaik an die Zeit der britischen Kolonialherrschaft.

 

„Als der Westen die Entwicklungsländer aufforderte, sich für den Freihandel zu öffnen und ihr Land den internationalen Märkten zur Verfügung zu stellen, habe ich davor gewarnt, dass in der Folge wieder Symptome auftreten werden wie in der Kolonialzeit. Die Öffnung des Agrarmarktes wird dazu führen, dass die weltweite Nachfrage unser Agrarmodell verändern wird, weg vom Anbau für den lokalen Verbrauch hin zu Exportprodukten. Aber die Ackerflächen, die zur Verfügung stehen, sind begrenzt. Wenn also mehr und mehr fruchtbares Land dafür abgezweigt wird, kommt der Nahrungsmittelanbau für die ansässige Bevölkerung zu kurz. Die Wachstumsrate für Nahrungsmittel, die für den Konsum in Indien zur Verfügung stehen, ist dramatisch zurückgegangen, von 2,7 Prozent in den 80er-Jahren auf gerade noch ein Prozent in den Jahren 2000 bis 2008. Das ist gerade einmal halb so viel wie die jährliche Zuwachsrate der Bevölkerung. Der Pro-Kopf-Ertrag fällt also steil ab.“

 

Utsa Patnaik prognostiziert wachsende soziale Spannungen, die sich explosionsartig entladen könnten. Ihr Buch ist ein wichtiges Korrektiv einer verengten und oberflächlichen Sichtweise, die Indien eine goldene Zukunft voraussagt und dabei ausschließlich die Mittel- und Oberschicht Indiens, also nur ein bis zwei Zehntel der 1,1 Milliarden Inder, im Blick hat.

 

Deutschlandfunk, Das Magazin für Politische Literatur, 5.10.2009 


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