Alokeranjan Dasgupta

 

Laudatio

 

In der Kulturgeschichte der Menschheit gibt es immer wieder einen neuen Anfang, ohne dass es uns sofort auffällt. So sehr sind wir an die konservative Kontinuität der Zeitgeschehnisse gewöhnt. Der von dem Philosophen Giorgio Agamben geprägte Begriff des Paradigmenwechsels besagt, dass Geschichte nicht der kontinuierliche Fortschritt entlang der Linearität der Zeit ist, sondern in ihrem Wesen nach Intervall, gewisse Diskontinuität, autarke Epochen bildend.

 

Frau Professor Dr. Gisela Bonn hatte auch diesen Begriff im Sinne, als sie ihr viel gerühmtes Buch „Die indische Herausforderung“ verfasste, das auch eine Übersetzung der Radioansprache des ersten Premierministers Indiens J. Nehru enthielt, die er anlässlich der indischen Unabhängigkeit in der Nacht vom 14. auf den 15. August 1947 hielt. Ich zitiere:

 

„Beim Schlag der Mitternacht, während die Welt im Schlummer liegt, wird Indien zu Leben und Freiheit erwachen. Ein Augenblick nähert sich, wie er nur selten in der Geschichte kommt: Wir schreiten aus dem Alten ins Neue, ein Zeitalter geht zu Ende, und die Seele einer so lange unterdrückten Nation findet ihre Sprache.“

 

Zu einem späteren Zeitpunkt, anlässlich eines Diwali-Treffens in Stuttgart, sprach mich Frau Bonn auf die Sprachfindungsproblematik Indiens an. Sie schlug vor, dass Lothar Lutze, Günter Sontheimer und ich Beiträge für ihre Zeitschrift „Indo-Asia“ schreiben. Sie nannte uns die „Heidelberger Schule“ und wollte, dass wir Literatur- Übersetzungen direkt aus den indischen Regionalsprachen vornähmen und nicht, wie es oft geschieht, vorhandene englische Literatur-Übersetzungen ins Deutsche übersetzen. Dem tradierten Usus müsste ihrem Dafürhalten nach ein Ende gesetzt werden. Denn die sprachliche Metamorphose, die ohnehin durch eine Übersetzung aus der Originalsprache statt fände, wäre bei einer Direktübersetzung noch möglich, bei einem Umweg über das Englische dagegen sehr schwierig.

 

Ich darf hier die Gedichtsammlung „Gitanjali“ von Tagore erwähnen, die ihm den Nobelpreis brachte. Sie wurde zuerst ins Englische übersetzt und begeisterte das englischsprache Lesepublikum. Als diese englische Übersetzung dann ins Deutsche übertragen wurde, fiel die Reaktion wesentlich verhaltener aus.

 

Nun zurück zu dem eben erwähnten Vorschlag von Gisela Bonn, der uns sehr ansprach. Wir befolgten ihren Rat. Literarische Texte wurden direkt aus dem Hindi, Marathi und Bengali ins Deutsche übersetzt und regelmäßig in der Sparte „Süd- Asien-Anthologie“ in der von Frau Bonn herausgegebenen Zeitschrift veröffentlicht. Ohne diese Pionierarbeiten hätten weder die Frankfurter Buchmesse 1986 mit Indien als Schwerpunkt noch die indischen Festspiele 1991/92 verwirklicht werden können. Eine weitere Folge war, dass „Harenbergs Lexikon der Weltliteratur“ der moderen Literatur Indiens einen Abschnitt einräumte.

 

In dieser Konstellation besuchte Christian Weiß von 1983 bis 1988 unsere Lehrveranstaltungen am Südasien-Institut der Universität Heidelberg und erwarb dabei eine solide Grundlage in der bengalischen Sprache und Kultur. Mit großem Einfühlungsvermögen wirkte er 1986 an der von mir herausgegebenen Anthologie „Gelobt sei der Pfau. Indische Lyrik der Gegenwart“ mit. Nach Studienabschluss beteiligte sich Herr Weiß an mehreren meiner Übersetzungsprojekte (bengalisch- deutsch-bengalisch), wobei er stets Empathie und Ideenreichtum an den Tag legte. Aufgrund seiner umfangreichen Kenntnisse der europäischen und außereuropäischen Literatur sowie seines Verständnisses für die Kulturlandschaft Ost- und Westbengalens entwickelte sich Herr Weiß zu einem Insider und einem der wichtigsten Initiatoren des deutsch-indischen Dialogs.

 

Es wäre also gänzlich falsch anzunehmen, Herr Weiß hätte sich in ein gemachtes Nest gesetzt. Sein Engagement in dem von ihm gegründeten Draupadi Verlag ist erstaunlich. Man denke nur an seinen Vorgänger Wolf Mersch aus Freiburg mit der Publikationsreihe „Moderne indische Bibliothek“. Wolf Mersch setzte alles daran, die Übersetzungstätigkeit voranzutreiben. Es fehlte aber am Geld, um die Produktion und publikumsnahe Proliferation zu ermöglichen. Er verstarb märtyrerhaft buchstäblich aus Frust.

 

Auch die letztjährige Frankfurter Buchmesse mit Indien als Achse hat gezeigt, dass trotz der unermüdlichen Arbeit von schöpferischen Akademikern die Lothar Lutze und Hans Harder die Mammutaufgabe, um Paul Celan zu zitieren, „Fergendienst“ zwischen indischen Originalsprachen und Zielsprache Deutsch zwar geleistet, aber nicht publiziert werden kann.

 

Um die regionalsprachige Literatur voranzubringen, braucht man Ansporn und Finanzmittel. Vonnöten sind Sponsoren und Stiftungen, die Literaturübersetzungen fördern. Es scheint so, als hätten die Sponsoren ihren Standort nicht mehr in diesem ehemaligen Schlaraffenland, wo sich momentan eine neue Armut (auch im kulturell- seelischen Bereich) breit gemacht hat.

 

In dieser tristen Kulturlandschaft macht der unermüdliche Einsatz von Christian Weiß Mut. Der Draupadi Verlag ist gegenwärtig der einzige Verlag, der direkt aus den indischen Regionalsprachen verborgene literarische Schätze hebt und veröffentlicht, während sich die Haifisch-Verleger auf manchmal sehr mittelmäßige indo-englische Autoren stürzen. Der beispielhafte Alleingang des Draupadi Verlags ermutigt uns, die Literatur als Wertvorstellung anzuvisieren.

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Ich bin stolz, dass in diesem Prozess Christian Weiß, der einst mein Schüler war, jetzt zum Freund geworden ist. Im Bengalischen gibt es dafür ein Wort: Chhatrabondhu, das heißt Schüler-Freund, wobei der betreffende Lehrer sich auch von seinem Schüler orientieren lässt.

 

Ich für meinen Teil habe mich von ihm überzeugen lassen, das wir die von uns anvisierten Projekte niemals aufgeben, komme was wolle. Eine Mischung aus schwäbischer Geduld und indischem Humor sollte man bei Engpässen an den Tag legen. Durch unsere täglichen Telefongespräche versuchen wir, uns gegenseitig Mut zu machen. Diese Gespräche sind keineswegs zwanghaft. Eine Art von Telepathie funkt zwischen uns, die nie zur Tele-Apathie zu mutieren droht.

 

Wir sind auch keine Konsensgesellschaft, daher nehmen wir nicht selten einen dialektischen Stand ein, um einander zu provozieren. Bei einer Sache allerdings ist er unerbittlich. Er ist eingefleischter Fußballfan. Er stammt ja bekanntlich aus Stuttgart. Da mir der Name des Trainers des VfB Stuttgart, Armin Veh, nicht bekannt war, war er darüber so erbost, dass er mir die Freundschaft zu kündigen drohte und mehrere Tage nicht mit mir redete. Nichtsdestotrotz hat es uns der berühmte Satz von Schiller: „Der Mensch ist nur ein ganzer Mensch, wenn er spielt“ sehr angetan. So sind unsere Projekte von spielerischer Natur, obwohl die Sache des Öfteren zum russischen Roulette auszuarten droht.

 

Ich bin Christian Weiß sehr dankbar, dass er mich immer ins Vertrauen zieht. Dabei merke ich, dass er mit Kernkompetenzen begabt den Nukleus der von Gisela Bonn genannten Heidelberger Schule bildet. Die alte Garde zieht sich jetzt zurück, ein neuer Heger und Hüter ist da. Diesen Tatbestand anerkenne ich mit Demut. Aber wehe dem, der Christian Weiß in seiner Gegenwart lobt. Heimeligkeit ist ihm ein Gräuel. Zumal er sich dessen bewusst ist, dass es noch viel zu tun gibt.

 

Vor etwa drei Wochen fuhren wir nach einer Feier des indischen Unabhängigkeitstages in Wuppertal nach Heidelberg zurück. Wir hielten kurz an einem See, an einem lauschigen Plätzchen. Mir ging unentwegt die Strophe eines Gedichts von Robert Frost durch den Kopf, mit dem Titel: „Innehaltend inmitten der Wälder an einem Schnee-Abend.“ Dieses Gedicht lag sowohl Jawaharlal Nehru als auch Gisela Bonn sehr am Herzen.

Ich will meine bescheidene Laudatio an Christian Weiß mit diesen Versen beenden.

 

Zuerst das Original:

 

The woods are lovely green and deep,

but I've promises to keep,

miles to go before I sleep

and miles to go before I sleep.

 

Dann die deutsche Übersetzung von Paul Celan:

 

Anheimeln, dunkel, tief die Wälder, die ich traf.

Doch noch nicht eingelöst, was ich versprach.

Und Meilen, Meilen noch vorm Schlaf -

und Meilen Wegs bis zum Schlaf.

 

Und schließlich hier noch meine bengalische Übersetzung:

 

banani gabhir shyamsunder naki,

tobuto kathay dite parbona phanki

ghumobar age ayojan path baki,

ghumobar age ayojan path baki.

 

 

Laudatio anlässlich der Verleihung des Gisela-Bonn-Preises am 22. September 2007